Fenner, Dagmar. Einführung in die angewandte Ethik. UTB Philosophie 3364. Tübingen: Francke Verlag, 2010.
Die rasante Entwicklung der Naturwissenschaften und der Technik eröffnet uns viele neue Handlungsmöglichkeiten. Sie sind teilweise mit erheblichen ethischen Schwierigkeiten und Konflikten verknüpft, die durch die bestehenden Rechtsnormen und traditionellen moralischen Normen nicht geregelt werden. Viele neue ethische Fragestellungen beziehen sich auf Handlungsbereiche, die uns erst seit wenigen Jahren oder Jahrzehnten offen stehen oder die erst jetzt als ethisch relevant betrachtet werden: Sollen die neuen Biotechnologien wie das Klonen oder die Gentechnik angewendet werden, obgleich gewisse Risiken bestehen und die Würde von Menschen und Tieren auf dem Spiel steht? Darf ein Sterbeprozess mit den immer besseren medizintechnischen Mitteln immer länger verzögert werden, auch wenn das Weiterleben dem Patienten zu einer unerträglichen Qual geworden ist? Können wir weiterhin Autoabgase und Kohlendioxide aus der Verbrennung
fossiler Brennstoffe in die Atmosphäre entlassen, die zu einem Klimawandel mit verheerenden Folgen beitragen? Sind die sich infolge der Technisierung drastisch verschlechternden Lebensbedingungen der Tiere in der industriellen Massentierhaltung noch zu verantworten? Wie sollen wir damit umgehen, dass die Medien mit ihren Strukturen und Inhalten dank der ständigen Erweiterungen der technischen Möglichkeiten immer mehr Lebensbereiche prägen und aus unserem Leben zunehmend ein Leben aus zweiter Hand machen? Ist es richtig, im Rahmen einer globalisierten Wirtschaft die Handelsware Tausende von Kilometern weit von einem Land ins andere zu transportieren, nur um höhere Gewinne zu erzielen?
Alle diese gegenwartsdringlichen Fragen zeigen akute Probleme oder Konflikte im Bereich menschlichen Handelns auf. Sie lassen sich letztlich alle auf die Grundfrage der philosophischen Ethik schlechthin zurückführen: Wie soll ich bzw. wie sollen wir handeln? Gerade angesichts der hohen Risiken der in Frage stehenden Handlungsweisen müssen oft rasch konkrete Lösungen und Regelungen gefunden werden. Es herrscht also ein gesteigerter praktischer Orientierungsbedarf. In der Politik und in der Öffentlichkeit setzen viele ihre Hoffnung auf die philosophische Ethik und insbesondere die noch junge Angewandte Ethik, die in Kommissionen, Räten und Gremien institutionalisiert wird. Nur wenige der zur Diskussion stehenden Probleme sind dabei ausschließlich eine Sache der privaten Lebensführung, des persönlichen guten Lebens. Es geht also nicht oder nicht allein darum, dass die Handlungssubjekte selbst mittels bestimmter Handlungs- oder Lebensweisen glücklich werden. Gefahndet wird vielmehr nach Handlungsorientierungen für eine ganze Gemeinschaft, für das kollektive Handeln. Weil nicht ausschließlich das Wohl Einzelner, sondern das Wohl der Gemeinschaft und oft sogar die natürliche Lebensgrundlage aller Lebewesen auf dem Spiel steht, sprengen die neuartigen Probleme den privaten Entscheidungsbereich von Individuen. Es handelt sich größtenteils um öffentliche Angelegenheiten. Daher entfachen sie breite und lebhafte öffentliche Debatten, die leider allzu oft sehr emotional geführt werden. Das vorliegende Buch möchte einen Beitrag zur Versachlichung dieser Diskussionen leisten, indem es die Standpunkte und Argumentationen bezüglich der verschiedenen Streitfragen nüchtern analysiert. Die Argumente werden auf ihre Voraussetzungen oder Hintergrundannahmen hin geprüft und auf bestimmte Argumentationstypen oder Begründungsformen zurückgeführt. Es soll gezeigt werden, wie sich die Stichhaltigkeit von Argumenten und Positionen kritisch hinterfragen lässt und wie eine eigene klare und begründete Stellungnahme zu den aktuellen Problemen entwickelt werden kann. Ziel ist es letztlich, die Leser für die drängenden ethischen Probleme unserer Gesellschaft zu sensibilisieren und ihr ethisches Urteilsvermögen zu schärfen.
Ethik und Angewandte Ethik
Die Ethik versucht ganz generell die Frage zu beantworten, wie die Men-
schen handeln sollen. Anders als die theologische Ethik setzt die philoso-
phische Ethik bei der Beantwortung dieser Frage keinen Glauben an eine
bestimmte Religion voraus und verzichtet grundsätzlich auf einen Rückgriff
auf heilige Texte oder den göttlichen Willen. Philosophische Ethik lässt
sich daher folgendermaßen definieren: Sie ist eine Disziplin der praktischen
Philosophie, die allgemeine Prinzipen oder Beurteilungskriterien zur Be-
antwortung der Frage nach dem richtigen Handeln zu begründen sucht. Im
Unterschied zur theoretischen Philosophie, die sich mit dem „Sein“ und den
faktischen Gegebenheiten beschäftigt, widmet sich die praktische Philoso-
phie dem „Sollen“ im Rahmen der menschlichen Praxis. Sie zielt nicht wie
jene auf theoretisches Wissen und auf das Ideal der Wahrheit ab, sondern
auf praktische Orientierung und die Idee des Guten oder normativ Richtigen.
Ihre Grundfrage lautet nicht „Was kann ich wissen?“ oder „Was kann ich
erkennen?“, sondern „Was soll ich tun?“ bzw. „Warum ist es gut, dies oder
jenes zu tun?“. Man kann sich die ethische Grundfrage entweder mit Blick
auf die persönliche Lebensführung und die Eigeninteressen der handelnden
Person stellen (prudentielle Perspektive) oder aber hinsichtlich dessen, was
für die ganze Gemeinschaft das Beste wäre (moralische Perspektive). Wo es
um das für das Individuum Gute, um sein persönliches Glück oder gutes Le-
ben geht, spricht man von Individual- oder Strebensethik oder auch Ethik
des guten Lebens. Steht hingegen das für die Gemeinschaft Gute oder das
gerechte Zusammenleben der Menschen in Frage, nimmt man die Perspek-
tive der Sozialethik, Sollensethik oder Moralphilosophie ein. Es haben sich
für diese beiden grundlegenden Perspektiven oder Dimensionen in der Ethik
auch die Attribute „prudentiell“ und „moralisch“ eingebürgert.
Es soll noch angemerkt werden, dass mit dieser Ethik-Definition genau
genommen die normative Ethik bestimmt worden ist. Neben einer „nor-
mativen Ethik“ gibt es nämlich auch noch die „deskriptive“ und die „Meta-
ethik“: Die deskriptive Ethik beschreibt lediglich, welche Wertvorstellungen
und Normen in einer historisch-kulturellen Gemeinschaft tatsächlich gelten.
Man stellt also beispielsweise fest, dass in christlichen Gemeinschaften die
Selbsttötung verboten ist oder bei gewissen Eskimovölkern alte, schwache
Menschen in den Tod geschickt wurden. Solch deskriptive Aussagen gehö-
ren eher zum Aufgabenbereich eines empirisch arbeitenden Soziologen oder
Ethnologen als eines Philosophen. Demgegenüber analysiert die Metaethik
als Wissenschaftstheorie der Ethik die ethischen Grundbegriffe und Begrün-
dungsmethoden, etwa die Termini „sollen“, „gut“ oder „gerecht“. Wer nor-
mative Ethik betreibt, kommt um wenigstens rudimentäre metaethische Er-
wägungen nicht herum. Denn die Klärung der sprachlichen Grundlagen und
der Möglichkeiten ethischer Begründung ist für eine wissenschaftliche Be-
schäftigung mit Ethik unverzichtbar. Wenn im Folgenden von Ethik die Rede
ist, soll aber in erster Linie die normative Ethik als Kernbereich dieser Diszi-
plin gemeint sein.
Unter Moral versteht man in der Neuzeit meist die Gesamtheit der Nor-
men zur Regelung des Zusammenlebens, die in einer Gemeinschaft gelten
oder gelten sollen (vgl. Steigleder 2006, 16). Normen sind Handlungsregeln
in Form von Geboten oder Verboten wie etwa „Du sollst nicht Lügen!“, „Du
sollst Notleidenden helfen!“ oder „Du sollst nicht töten!“. Anspruch einer
Moral ist es, die Interessen der potentiell vom Handeln Betroffenen zu schüt-
zen und eine gerechte Form des Zusammenlebens in einer Gemeinschaft zu
ermöglichen. Sie teilt mit der Sozialethik also das „moralische“ Anliegen des
richtigen oder verantwortungsvollen Umgangs miteinander. Im Unterschied
zu solchen situationsspezifischen Normen der Moral gibt die Sozialethik kei-
ne direkten Handlungsanleitungen für konkrete Einzelhandlungen vor. Sie
entwickelt vielmehr auf einer allgemeineren Ebene Prinzipien oder Krite-
rien, um konkrete Handlungen zu beurteilen oder faktisch anerkannte Nor-
men zu hinterfragen und gegebenenfalls zu kritisieren und zu korrigieren.
Auf dieser abstrakten Ebene geht es etwa um die Begründung von Prinzi-
pien wie „Menschenwürde“, „Freiheit“, „Wohltun“ oder „Gerechtigkeit“. Ne-
ben solchen inhaltlichen Prinzipien suchte man in der Philosophiegeschichte
stets auch nach methodischen Prinzipien oder höchsten Moralprinzipien, aus
denen man sämtliche Prinzipien und Normen für das menschliche Handeln
ableiten kann. Man denke an Kants kategorischen Imperativ oder an das dis-
kursethische Moralprinzip (vgl. unten). Die Sozialethik prüft mit ihrer Hilfe,
welche moralischen Normen zu Recht den Anspruch auf normative Richtigkeit
erheben. Andererseits basieren auch die tradierten moralische Normen auf
mehr oder weniger bewussten und fundierten Überzeugungen, dass die gel-
tenden Normen die bestmögliche Form des menschlichen Zusammenlebens
garantieren. Der Unterschied zwischen Ethik und Moral wäre so gesehen nur
ein gradueller, nicht ein struktureller. Wie die Bezeichnung „Moralphiloso-
phie“ schon deutlich macht, kann man die „Sozialethik“ aber aufgrund ihres
höheren methodischen Anspruchs durchaus die „Wissenschaft der Moral“
nennen. Da die „Ethik“ insgesamt allerdings neben der gelebten Moral auch
noch die vorhandenen Vorstellungen vom Glück oder guten Leben systema-
tisch reflektiert, ist Ethik mehr als Wissenschaft von der Moral, nämlich auch
noch Wissenschaft vom Glück oder guten Leben.
Die Bezeichnung Angewande Ethik ist nicht unumstritten. Wenn Ethik
eine Disziplin der praktischen Philosophie darstellt und „angewandt“ soviel
wie „praktisch“ bedeutet, wäre die „angewandte Ethik“ eine „praktische
praktische Philosophie“, was natürlich tautologisch klingt (vgl. Vieth, 19).
Denn im Unterschied zur theoretischen Philosophie bemüht sich die prak-
tische Philosophie insgesamt nicht nur um theoretisches Wissen, sondern
um die Orientierung der Menschen im Handeln. Seit ihren Anfängen in
der griechischen Antike zielt sie auf die Optimierung der Gestaltung des
persönlichen und gemeinsamen Lebens ab. Im ethischen Hauptwerk von
Aristoteles etwa liest man, es gehe bei seiner Untersuchung nicht darum zu
wissen, was gut ist, sondern darum, gute Menschen zu werden (vgl. Aristo-
teles: NE, 1103, 27b). Die Anwendungsdimension scheint also gleichsam ein
Zielpunkt jeder ethischen Reflexion zu sein, und nicht nur ein nachträglich
der Theorie hinzugefügtes Anhängsel (vgl. Düwell 2002, 243). Ein genau-
eres Studium der neuzeitlichen Ethik zeigt jedoch nicht nur, dass seit Kant
die sozialethische Perspektive die individualethische fast vollständig aus der
normativen Ethik verdrängt hat (vgl. Fenner 2007, 22 f.). Bedeutsamer für
unseren Zusammenhang ist die fast ausschließliche Konzentration der neu-
zeitlichen Ethik auf die rationale Begründung allgemeiner Moralprinzipien
sowie die Klärung ethischer Grundbegriffe (vgl. Ethik, 206 f.). Während im
deutschsprachigen Raum v. a. durch den Kantianismus der Begründungsge-
danke radikalisiert wurde, übte in den angelsächsischen Ländern die Me-
taethik großen Einfluss aus. Insgesamt beschäftigte sich die akademische
Ethik damit hauptsächlich mit Grundsatzfragen der praktischen Philosophie.
Auf diese Weise hat man aber nicht nur die anwendungsbezogenen Über-
legungen vernachlässigt, sondern man kann mit Bayertz von einer damit
einhergehenden „Abwertung des Anwendungsproblems“ sprechen (Bayertz
1991, 13).
Als Paradebeispiel für diese Vernachlässigung der Anwendungsdimension
kann die Ethik Kants dienen (vgl. Ethik, 4.2.3a): Um moralisch zu handeln,
hat man nach Kant seinen Willen oder die praktische Vernunft von allen
subjektiven empirischen Bestimmungsgründen wie Trieben und Neigungen
zu reinigen. Denn moralisch wertvoll können in seinen Augen nur Hand-
lungsforderungen sein, die für alle Menschen unabhängig von ihren sub-
jektiven Zielen und zufälligen Lebensbedingungen gelten. Als Unterschei-
dungskriterium zwischen moralischen und unmoralischen Handlungsregeln
kommen daher keine Inhalte, sondern allein die Form der Allgemeinheit ei-
ner Handlungsregel in Frage. Daraus ergibt sich das höchste Moralprinzip
des kategorischen Imperativs, der als Test für die Verallgemeinerbarkeit fun-
giert: Handle nach derjenigen Handlungsregel, die ein allgemeines Gesetz der
Menschheit sein könnte. Obgleich Kant selbst dieses Universalisierungsprin-
zip an vier Anschauungsbeispielen erläutert hat (vgl. GMS, A/B 53–56), ist
deren Interpretation bis heute so umstritten, dass die genaue Anwendungs-
weise weiterhin unklar bleibt. Auf jeden Fall werden nicht einzelne Hand-
lungsweisen aus der alltäglichen Praxis einem Universalisierungstest unter-
zogen, sondern sehr generelle Handlungsregeln oder Maximen, die dazu
anweisen, wie man sein Leben als Ganzes führen soll. Bei solchen generellen
Regeln wie „In Not lege ich ein falsches Versprechen ab“ bleiben aber alle
spezifizierenden Kontextbedingungen wie die Größe oder die Ursachen der
Not unberücksichtigt. Zudem wird das logische Universalisierungsverfahren
unter Absehung von allen empirischen Interessen der vom Handeln Be-
troffenen allein im Kopf des Handlungssubjekts vollzogen. Stellt man sich
beispielsweise vor, das Ablegen eines falschen Versprechens wäre ein all-
gemeines Gesetz, ergibt sich folgender logischer Widerspruch: Würden alle
Menschen versprechen, was sie nicht zu halten gedenken, wäre das Verspre-
chen als soziale Institution unterhöhlt. Die aus dem Test resultierenden Ge-
bote oder Verbote sollen schließlich unbedingt (kategorisch) und ohne Rück-
sicht auf den spezifischen Einzelfall gültig sein. So hat man sich nach Kant
auch an das Lügeverbot zu halten, wenn man von einem Mörder nach dem
Verbleib des im eigenen Haus versteckten, völlig unschuldigen Freundes ge-
fragt wird (vgl. Ethik, 5.1).
Angesichts der damit illustrierten Tendenz zur Vernachlässigung und Ab-
wertung des Anwendungsproblems in der neuzeitlichen Philosophie treten in
der Gegenwart viele philosophische Ethiker für eine Rehabilitierung des An-
wendungsbezugs ein. Um nicht nur theoretische Kriterien und Prinzipien zu
begründen, sondern im alltäglichen Leben den Menschen Orientierung bie-
ten zu können, unterstützen sie das junge Unternehmen der Angewandten
Ethik. Dabei versteht man unter „Angewandter Ethik“ aus dieser Blickrich-
tung eine Teildisziplin der normativen Ethik, welche die in der „Allgemeinen
Ethik“ entwickelten allgemeinen Prinzipien auf konkrete praktische Proble-
me „anwendet“. Bei einem solchen Top-down-Modell Angewandter Ethik
wird analog zum Hempel-Oppenheim-Schema davon ausgegangen, dass
man aus den von der Allgemeinen Ethik begründeten universellen Prinzi-
pien und den gegebenen situativen Umständen die richtige Handlungsweise
ableiten, d. h. „deduzieren“ kann. Auch Kants Universalismus ist zweifellos
einem deduktiven Verständnis von Moral verpflichtet. Denn er begreift die
Anwendung des sorgfältig begründeten Moralprinzips als zweitrangiges Ge-
schäft der bloßen Unterordnung des Besonderen (die Einzelhandlung) un-
ter das Allgemeine (die Prinzipien). Ein solches deduktives Vorgehen scheint
sich auch für das utilitaristische Moralprinzip anzubieten. Dieses fordert
nämlich dazu auf, durch sein Handeln die Befriedigung der tatsächlich vor-
handenen Bedürfnisse oder Präferenzen der betroffenen Personen zu ma-
ximieren (vgl. unten, S. 34). Definiert wird die Angewandte Ethik also bei
dieser Deutungsweise als „philosophische Disziplin“, die eine „systemati-
zogen, sondern sehr generelle Handlungsregeln oder Maximen, die dazu
anweisen, wie man sein Leben als Ganzes führen soll. Bei solchen generellen
Regeln wie „In Not lege ich ein falsches Versprechen ab“ bleiben aber alle
spezifizierenden Kontextbedingungen wie die Größe oder die Ursachen der
Not unberücksichtigt. Zudem wird das logische Universalisierungsverfahren
unter Absehung von allen empirischen Interessen der vom Handeln Be-
troffenen allein im Kopf des Handlungssubjekts vollzogen. Stellt man sich
beispielsweise vor, das Ablegen eines falschen Versprechens wäre ein all-
gemeines Gesetz, ergibt sich folgender logischer Widerspruch: Würden alle
Menschen versprechen, was sie nicht zu halten gedenken, wäre das Verspre-
chen als soziale Institution unterhöhlt. Die aus dem Test resultierenden Ge-
bote oder Verbote sollen schließlich unbedingt (kategorisch) und ohne Rück-
sicht auf den spezifischen Einzelfall gültig sein. So hat man sich nach Kant
auch an das Lügeverbot zu halten, wenn man von einem Mörder nach dem
Verbleib des im eigenen Haus versteckten, völlig unschuldigen Freundes ge-
fragt wird (vgl. Ethik, 5.1).
Angesichts der damit illustrierten Tendenz zur Vernachlässigung und Ab-
wertung des Anwendungsproblems in der neuzeitlichen Philosophie treten in
der Gegenwart viele philosophische Ethiker für eine Rehabilitierung des An-
wendungsbezugs ein. Um nicht nur theoretische Kriterien und Prinzipien zu
begründen, sondern im alltäglichen Leben den Menschen Orientierung bie-
ten zu können, unterstützen sie das junge Unternehmen der Angewandten
Ethik. Dabei versteht man unter „Angewandter Ethik“ aus dieser Blickrich-
tung eine Teildisziplin der normativen Ethik, welche die in der „Allgemeinen
Ethik“ entwickelten allgemeinen Prinzipien auf konkrete praktische Proble-
me „anwendet“. Bei einem solchen Top-down-Modell Angewandter Ethik
wird analog zum Hempel-Oppenheim-Schema davon ausgegangen, dass
man aus den von der Allgemeinen Ethik begründeten universellen Prinzi-
pien und den gegebenen situativen Umständen die richtige Handlungsweise
ableiten, d. h. „deduzieren“ kann. Auch Kants Universalismus ist zweifellos
einem deduktiven Verständnis von Moral verpflichtet. Denn er begreift die
Anwendung des sorgfältig begründeten Moralprinzips als zweitrangiges Ge-
schäft der bloßen Unterordnung des Besonderen (die Einzelhandlung) un-
ter das Allgemeine (die Prinzipien). Ein solches deduktives Vorgehen scheint
sich auch für das utilitaristische Moralprinzip anzubieten. Dieses fordert
nämlich dazu auf, durch sein Handeln die Befriedigung der tatsächlich vor-
handenen Bedürfnisse oder Präferenzen der betroffenen Personen zu ma-
ximieren (vgl. unten, S. 34). Definiert wird die Angewandte Ethik also bei
dieser Deutungsweise als „philosophische Disziplin“, die eine „systemati-
zogen, sondern sehr generelle Handlungsregeln oder Maximen, die dazu
anweisen, wie man sein Leben als Ganzes führen soll. Bei solchen generellen
Regeln wie „In Not lege ich ein falsches Versprechen ab“ bleiben aber alle
spezifizierenden Kontextbedingungen wie die Größe oder die Ursachen der
Not unberücksichtigt. Zudem wird das logische Universalisierungsverfahren
unter Absehung von allen empirischen Interessen der vom Handeln Be-
troffenen allein im Kopf des Handlungssubjekts vollzogen. Stellt man sich
beispielsweise vor, das Ablegen eines falschen Versprechens wäre ein all-
gemeines Gesetz, ergibt sich folgender logischer Widerspruch: Würden alle
Menschen versprechen, was sie nicht zu halten gedenken, wäre das Verspre-
chen als soziale Institution unterhöhlt. Die aus dem Test resultierenden Ge-
bote oder Verbote sollen schließlich unbedingt (kategorisch) und ohne Rück-
sicht auf den spezifischen Einzelfall gültig sein. So hat man sich nach Kant
auch an das Lügeverbot zu halten, wenn man von einem Mörder nach dem
Verbleib des im eigenen Haus versteckten, völlig unschuldigen Freundes ge-
fragt wird (vgl. Ethik, 5.1).
Angesichts der damit illustrierten Tendenz zur Vernachlässigung und Ab-
wertung des Anwendungsproblems in der neuzeitlichen Philosophie treten in
der Gegenwart viele philosophische Ethiker für eine Rehabilitierung des An-
wendungsbezugs ein. Um nicht nur theoretische Kriterien und Prinzipien zu
begründen, sondern im alltäglichen Leben den Menschen Orientierung bie-
ten zu können, unterstützen sie das junge Unternehmen der Angewandten
Ethik. Dabei versteht man unter „Angewandter Ethik“ aus dieser Blickrich-
tung eine Teildisziplin der normativen Ethik, welche die in der „Allgemeinen
Ethik“ entwickelten allgemeinen Prinzipien auf konkrete praktische Proble-
me „anwendet“. Bei einem solchen Top-down-Modell Angewandter Ethik
wird analog zum Hempel-Oppenheim-Schema davon ausgegangen, dass
man aus den von der Allgemeinen Ethik begründeten universellen Prinzi-
pien und den gegebenen situativen Umständen die richtige Handlungsweise
ableiten, d. h. „deduzieren“ kann. Auch Kants Universalismus ist zweifellos
einem deduktiven Verständnis von Moral verpflichtet. Denn er begreift die
Anwendung des sorgfältig begründeten Moralprinzips als zweitrangiges Ge-
schäft der bloßen Unterordnung des Besonderen (die Einzelhandlung) un-
ter das Allgemeine (die Prinzipien). Ein solches deduktives Vorgehen scheint
sich auch für das utilitaristische Moralprinzip anzubieten. Dieses fordert
nämlich dazu auf, durch sein Handeln die Befriedigung der tatsächlich vor-
handenen Bedürfnisse oder Präferenzen der betroffenen Personen zu ma-
ximieren (vgl. unten, S. 34). Definiert wird die Angewandte Ethik also bei
dieser Deutungsweise als „philosophische Disziplin“, die eine „systemati-
sche Anwendung normativ-ethischer Prinzipien auf Handlungsräume, Be-
rufsfelder und Sachgebiete“ leistet (Thurnherr 2000, 14). Entsprechend der
anwendungsspezifischen Handlungsfelder kann sie nochmals in „Medizin-
ethik“, „Naturethik“, „Medienethik“ etc. untergliedert werden. Es handle
sich um eine „angewandte Wissenschaft“ (Pieper 2007, 92), die genauso wie
die begründungsorientierte normative Ethik von akademischen Philosophen
betrieben wird. Von dieser soll sie sich lediglich durch ihre Spezialisierung
auf medizinische, ökologische, medienspezifische o. ä. Probleme unterschei-
den.
Gegen dieses Top-down-Modell Angewandter Ethik wird eingewendet,
dass in der Allgemeinen Ethik vielfältige und sich teilweise widersprechen-
de Moralprinzipien und Begründungsverfahren vorliegen (vgl. Kapitel 1.2).
Auch abgesehen davon seien die klassischen Ansätze der philosophischen
Ethik prinzipiell für Problemlösungen in der moralischen Alltagspraxis „hin-
derlich“ oder „irrelevant“ (vgl. Vieth, 45). Bevorzugt werden aufgrund des-
sen Bottom-up-Modelle Angewandter Ethik, bei denen man generelle Prin-
zipien nicht ableitet, sondern aus den gesammelten und systematisierten
Erfahrungen mit ähnlichen Problemfällen herzuleiten, d. h. zu „induzieren“
versucht. Umgekehrt zum deduktiven Modell sind die kontextgebundenen
Einzelurteile und fallbezogenen Erfahrungen hier das Primäre, die allgemei-
nen Regeln oder Prinzipien hingegen das hergeleitete Sekundäre. Aus dieser
Warte plädiert man für einen Typus einer Angewandten Ethik, der gerade als
„Gegenmodell zu bestimmten Traditionslinien der modernen philosophischen
Ethik“ auftritt (ebd., 14). Ausgangspunkt der Angewandten Ethik wären
dann nicht Grundsatzfragen der praktischen Orientierung, sondern „relativ
kleinräumige, bisweilen auch recht spezielle Probleme“ (Bayertz 2004, 53).
Ein durch akute Schwierigkeiten ausgelöstes Klärungsbedürfnis spreche kei-
neswegs die Ethik als wissenschaftliche Disziplin der Philosophie an, da diese
vielmehr selbst Gegenstand der Kritik sei (vgl. Kaminsky, 144). Folglich ließe
sich Angewandte Ethik weder als philosophische Disziplin noch über ihren
Anwendungscharakter definieren. Sie wäre statt als „reine Wissenschaft“ als
Tätigkeit des demokratischen Sich-Beratens aufzufassen, die zwischen Wis-
senschaft und Politik vermittelt (vgl. ebd., 149/Kettner 2000, 398). Ihr aus-
drückliches Ziel sei es, auf die öffentlichen Entscheidungsprozesse bezüglich
drängender Zeitfragen Einfluss zu nehmen.