Exzerpte aus: Fenner, Dagmar. Einführung in die angewandte Ethik. UTB Philosophie 3364. Tübingen: Francke Verlag, 2010.


Die rasante Entwicklung der Naturwissenschaften und der Technik eröffnet uns viele neue Handlungsmöglichkeiten. Sie sind teilweise mit erheblichen ethischen Schwierigkeiten und Konflikten verknüpft, die durch die bestehenden Rechtsnormen und traditionellen moralischen Normen nicht geregelt werden. Viele neue ethische Fragestellungen beziehen sich auf Handlungsbereiche, die uns erst seit wenigen Jahren oder Jahrzehnten offen stehen oder die erst jetzt als ethisch relevant betrachtet werden: Sollen die neuen Biotechnologien wie das Klonen oder die Gentechnik angewendet werden, obgleich gewisse Risiken bestehen und die Würde von Menschen und Tieren auf dem Spiel steht? Darf ein Sterbeprozess mit den immer besseren medizintechnischen Mitteln immer länger verzögert werden, auch wenn das Weiterleben dem Patienten zu einer unerträglichen Qual geworden ist? Können wir weiterhin Autoabgase und Kohlendioxide aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe in die Atmosphäre entlassen, die zu einem Klimawandel mit verheerenden Folgen beitragen? Sind die sich infolge der Technisierung drastisch verschlechternden Lebensbedingungen der Tiere in der industriellen Massentierhaltung noch zu verantworten? Wie sollen wir damit umgehen, dass die Medien mit ihren Strukturen und Inhalten dank der ständigen Erweiterungen der technischen Möglichkeiten immer mehr Lebensbereiche prägen und aus unserem Leben zunehmend ein Leben aus zweiter Hand machen? Ist es richtig, im Rahmen einer globalisierten Wirtschaft die Handelsware Tausende von Kilometern weit von einem Land ins andere zu transportieren, nur um höhere Gewinne zu erzielen?

Alle diese gegenwartsdringlichen Fragen zeigen akute Probleme oder Konflikte im Bereich menschlichen Handelns auf. Sie lassen sich letztlich alle auf die Grundfrage der philosophischen Ethik schlechthin zurückführen: Wie soll ich bzw. wie sollen wir handeln? Gerade angesichts der hohen Risiken der in Frage stehenden Handlungsweisen müssen oft rasch konkrete Lösungen und Regelungen gefunden werden. Es herrscht also ein gesteigerter praktischer Orientierungsbedarf. In der Politik und in der Öffentlichkeit setzen viele ihre Hoffnung auf die philosophische Ethik und insbesondere die noch junge Angewandte Ethik, die in Kommissionen, Räten und Gremien institutionalisiert wird.

Nur wenige der zur Diskussion stehenden Probleme sind dabei ausschließlich eine Sache der privaten Lebensführung, des persönlichen guten Lebens. Es geht also nicht oder nicht allein darum, dass die Handlungssubjekte selbst mittels bestimmter Handlungs- oder Lebensweisen glücklich werden. Gefahndet wird vielmehr nach Handlungsorientierungen für eine ganze Gemeinschaft, für das kollektive Handeln. Weil nicht ausschließlich das Wohl Einzelner, sondern das Wohl der Gemeinschaft und oft sogar die natürliche Lebensgrundlage aller Lebewesen auf dem Spiel steht, sprengen die neuartigen Probleme den privaten Entscheidungsbereich von Individuen. Es handelt sich größtenteils um öffentliche Angelegenheiten. Daher entfachen sie breite und lebhafte öffentliche Debatten, die leider allzu oft sehr emotional geführt werden. Das vorliegende Buch möchte einen Beitrag zur Versachlichung dieser Diskussionen leisten, indem es die Standpunkte und Argumentationen bezüglich der verschiedenen Streitfragen nüchtern analysiert. Die Argumente werden auf ihre Voraussetzungen oder Hintergrundannahmen hin geprüft und auf bestimmte Argumentationstypen oder Begründungsformen zurückgeführt. Es soll gezeigt werden, wie sich die Stichhaltigkeit von Argumenten und Positionen kritisch hinterfragen lässt und wie eine eigene klare und begründete Stellungnahme zu den aktuellen Problemen entwickelt werden kann. Ziel ist es letztlich, die Leser für die drängenden ethischen Probleme unserer Gesellschaft zu sensibilisieren und ihr ethisches Urteilsvermögen zu schärfen.


Ethik und Angewandte Ethik


Die Ethik versucht ganz generell die Frage zu beantworten, wie die Menschen handeln sollen. Anders als die theologische Ethik setzt die philosophische Ethik bei der Beantwortung dieser Frage keinen Glauben an eine bestimmte Religion voraus und verzichtet grundsätzlich auf einen Rückgriff auf heilige Texte oder den göttlichen Willen. Philosophische Ethik lässt sich daher folgendermaßen definieren: Sie ist eine Disziplin der praktischen Philosophie, die allgemeine Prinzipen oder Beurteilungskriterien zur Beantwortung der Frage nach dem richtigen Handeln zu begründen sucht. ... Man kann sich die ethische Grundfrage entweder mit Blick auf die persönliche Lebensführung und die Eigeninteressen der handelnden Person stellen (prudentielle Perspektive) oder aber hinsichtlich dessen, was für die ganze Gemeinschaft das Beste wäre (moralische Perspektive). Wo es um das für das Individuum Gute, um sein persönliches Glück oder gutes Leben geht, spricht man von Individual- oder Strebensethik oder auch Ethik des guten Lebens. Steht hingegen das für die Gemeinschaft Gute oder das gerechte Zusammenleben der Menschen in Frage, nimmt man die Perspektive der Sozialethik, Sollensethik oder Moralphilosophie ein. Es haben sich für diese beiden grundlegenden Perspektiven oder Dimensionen in der Ethik auch die Attribute „prudentiell“ und „moralisch“ eingebürgert.

Es soll noch angemerkt werden, dass mit dieser Ethik-Definition genau genommen die normative Ethik bestimmt worden ist. Neben einer „normativen Ethik“ gibt es nämlich auch noch die „deskriptive“ und die „Metaethik“: Die deskriptive Ethik beschreibt lediglich, welche Wertvorstellungen und Normen in einer historisch-kulturellen Gemeinschaft tatsächlich gelten. Man stellt also beispielsweise fest, dass in christlichen Gemeinschaften die Selbsttötung verboten ist oder bei gewissen Eskimovölkern alte, schwache Menschen in den Tod geschickt wurden. Solch deskriptive Aussagen gehören eher zum Aufgabenbereich eines empirisch arbeitenden Soziologen oder Ethnologen als eines Philosophen. Demgegenüber analysiert die Metaethik als Wissenschaftstheorie der Ethik die ethischen Grundbegriffe und Begründungsmethoden, etwa die Termini „sollen“, „gut“ oder „gerecht“. Wer normative Ethik betreibt, kommt um wenigstens rudimentäre metaethische Erwägungen nicht herum. Denn die Klärung der sprachlichen Grundlagen und der Möglichkeiten ethischer Begründung ist für eine wissenschaftliche Beschäftigung mit Ethik unverzichtbar. Wenn im Folgenden von Ethik die Rede ist, soll aber in erster Linie die normative Ethik als Kernbereich dieser Disziplin gemeint sein.

Unter Moral versteht man in der Neuzeit meist die Gesamtheit der Normen zur Regelung des Zusammenlebens, die in einer Gemeinschaft gelten oder gelten sollen (vgl. Steigleder 2006, 16). Normen sind Handlungsregeln in Form von Geboten oder Verboten wie etwa „Du sollst nicht Lügen!“, „Du sollst Notleidenden helfen!“ oder „Du sollst nicht töten!“. Anspruch einer Moral ist es, die Interessen der potentiell vom Handeln Betroffenen zu schützen und eine gerechte Form des Zusammenlebens in einer Gemeinschaft zu ermöglichen. Sie teilt mit der Sozialethik also das „moralische“ Anliegen des richtigen oder verantwortungsvollen Umgangs miteinander.

Im Unterschied zu solchen situationsspezifischen Normen der Moral gibt die Sozialethik keine direkten Handlungsanleitungen für konkrete Einzelhandlungen vor. Sie entwickelt vielmehr auf einer allgemeineren Ebene Prinzipien oder Kriterien, um konkrete Handlungen zu beurteilen oder faktisch anerkannte Normen zu hinterfragen und gegebenenfalls zu kritisieren und zu korrigieren. Auf dieser abstrakten Ebene geht es etwa um die Begründung von Prinzipien wie „Menschenwürde“, „Freiheit“, „Wohltun“ oder „Gerechtigkeit“.

Neben solchen inhaltlichen Prinzipien suchte man in der Philosophiegeschichte stets auch nach methodischen Prinzipien oder höchsten Moralprinzipien, aus denen man sämtliche Prinzipien und Normen für das menschliche Handeln ableiten kann. Man denke an Kants kategorischen Imperativ oder an das diskursethische Moralprinzip .... Die Sozialethik prüft mit ihrer Hilfe, welche moralischen Normen zu Recht den Anspruch auf normative Richtigkeit erheben. Andererseits basieren auch die tradierten moralische Normen auf mehr oder weniger bewussten und fundierten Überzeugungen, dass die geltenden Normen die bestmögliche Form des menschlichen Zusammenlebens garantieren. Der Unterschied zwischen Ethik und Moral wäre so gesehen nur ein gradueller, nicht ein struktureller. Wie die Bezeichnung „Moralphilosophie“ schon deutlich macht, kann man die „Sozialethik“ aber aufgrund ihres höheren methodischen Anspruchs durchaus die „Wissenschaft der Moral“ nennen. Da die „Ethik“ insgesamt allerdings neben der gelebten Moral auch noch die vorhandenen Vorstellungen vom Glück oder guten Leben systematisch reflektiert, ist Ethik mehr als Wissenschaft von der Moral, nämlich auch noch Wissenschaft vom Glück oder guten Leben.


Im ethischen Hauptwerk von Aristoteles etwa liest man, es gehe bei seiner Untersuchung nicht darum zu wissen, was gut ist, sondern darum, gute Menschen zu werden (vgl. Aristoteles: NE, 1103, 27b). Die Anwendungsdimension scheint also gleichsam ein Zielpunkt jeder ethischen Reflexion zu sein, und nicht nur ein nachträglich der Theorie hinzugefügtes Anhängsel (vgl. Düwell 2002, 243). Ein genaueres Studium der neuzeitlichen Ethik zeigt jedoch nicht nur, dass seit Kant die sozialethische Perspektive die individualethische fast vollständig aus der normativen Ethik verdrängt hat (vgl. Fenner 2007, 22 f.). Bedeutsamer für unseren Zusammenhang ist die fast ausschließliche Konzentration der neuzeitlichen Ethik auf die rationale Begründung allgemeiner Moralprinzipien sowie die Klärung ethischer Grundbegriffe (vgl. Ethik, 206 f.). Während im deutschsprachigen Raum v. a. durch den Kantianismus der Begründungsgedanke radikalisiert wurde, übte in den angelsächsischen Ländern die Metaethik großen Einfluss aus. Insgesamt beschäftigte sich die akademische Ethik damit hauptsächlich mit Grundsatzfragen der praktischen Philosophie. Auf diese Weise hat man aber nicht nur die anwendungsbezogenen Überlegungen vernachlässigt, sondern man kann mit Bayertz von einer damit einhergehenden „Abwertung des Anwendungsproblems“ sprechen (Bayertz 1991, 13).

Als Paradebeispiel für diese Vernachlässigung der Anwendungsdimension kann die Ethik Kants dienen (vgl. Ethik, 4.2.3a): Um moralisch zu handeln, hat man nach Kant seinen Willen oder die praktische Vernunft von allen subjektiven empirischen Bestimmungsgründen wie Trieben und Neigungen zu reinigen. Denn moralisch wertvoll können in seinen Augen nur Handlungsforderungen sein, die für alle Menschen unabhängig von ihren subjektiven Zielen und zufälligen Lebensbedingungen gelten. Als Unterscheidungskriterium zwischen moralischen und unmoralischen Handlungsregeln kommen daher keine Inhalte, sondern allein die Form der Allgemeinheit einer Handlungsregel in Frage. Daraus ergibt sich das höchste Moralprinzip des kategorischen Imperativs, der als Test für die Verallgemeinerbarkeit fungiert: Handle nach derjenigen Handlungsregel, die ein allgemeines Gesetz der Menschheit sein könnte. Obgleich Kant selbst dieses Universalisierungsprinzip an vier Anschauungsbeispielen erläutert hat (vgl. GMS, A/B 53–56), ist deren Interpretation bis heute so umstritten, dass die genaue Anwendungsweise weiterhin unklar bleibt. Auf jeden Fall werden nicht einzelne Handlungsweisen aus der alltäglichen Praxis einem Universalisierungstest unterzogen, sondern sehr generelle Handlungsregeln oder Maximen, die dazu anweisen, wie man sein Leben als Ganzes führen soll. Bei solchen generellen Regeln wie „In Not lege ich ein falsches Versprechen ab“ bleiben aber alle spezifizierenden Kontextbedingungen wie die Größe oder die Ursachen der Not unberücksichtigt. Zudem wird das logische Universalisierungsverfahren unter Absehung von allen empirischen Interessen der vom Handeln Betroffenen allein im Kopf des Handlungssubjekts vollzogen. Stellt man sich beispielsweise vor, das Ablegen eines falschen Versprechens wäre ein allgemeines Gesetz, ergibt sich folgender logischer Widerspruch: Würden alle Menschen versprechen, was sie nicht zu halten gedenken, wäre das Versprechen als soziale Institution unterhöhlt. Die aus dem Test resultierenden Gebote oder Verbote sollen schließlich unbedingt (kategorisch) und ohne Rücksicht auf den spezifischen Einzelfall gültig sein. So hat man sich nach Kant auch an das Lügeverbot zu halten, wenn man von einem Mörder nach dem Verbleib des im eigenen Haus versteckten, völlig unschuldigen Freundes gefragt wird (vgl. Ethik, 5.1).

Angesichts der damit illustrierten Tendenz zur Vernachlässigung und Abwertung des Anwendungsproblems in der neuzeitlichen Philosophie treten in der Gegenwart viele philosophische Ethiker für eine Rehabilitierung des Anwendungsbezugs ein. Um nicht nur theoretische Kriterien und Prinzipien zu begründen, sondern im alltäglichen Leben den Menschen Orientierung bieten zu können, unterstützen sie das junge Unternehmen der Angewandten Ethik. Dabei versteht man unter „Angewandter Ethik“ aus dieser Blickrichtung eine Teildisziplin der normativen Ethik, welche die in der „Allgemeinen Ethik“ entwickelten allgemeinen Prinzipien auf konkrete praktische Probleme „anwendet“. Bei einem solchen Top-down-Modell Angewandter Ethik wird analog zum Hempel-Oppenheim-Schema davon ausgegangen, dass man aus den von der Allgemeinen Ethik begründeten universellen Prinzipien und den gegebenen situativen Umständen die richtige Handlungsweise ableiten, d. h. „deduzieren“ kann. Auch Kants Universalismus ist zweifellos einem deduktiven Verständnis von Moral verpflichtet. Denn er begreift die Anwendung des sorgfältig begründeten Moralprinzips als zweitrangiges Geschäft der bloßen Unterordnung des Besonderen (die Einzelhandlung) unter das Allgemeine (die Prinzipien). Ein solches deduktives Vorgehen scheint sich auch für das utilitaristische Moralprinzip anzubieten. Dieses fordert nämlich dazu auf, durch sein Handeln die Befriedigung der tatsächlich vorhandenen Bedürfnisse oder Präferenzen der betroffenen Personen zu maximieren (vgl. unten, S. 34). 


Gegen dieses Top-down-Modell Angewandter Ethik wird eingewendet, dass in der Allgemeinen Ethik vielfältige und sich teilweise widersprechende Moralprinzipien und Begründungsverfahren vorliegen (vgl. Kapitel 1.2). Auch abgesehen davon seien die klassischen Ansätze der philosophischen Ethik prinzipiell für Problemlösungen in der moralischen Alltagspraxis „hinderlich“ oder „irrelevant“ (vgl. Vieth, 45). Bevorzugt werden aufgrund dessen Bottom-up-Modelle Angewandter Ethik, bei denen man generelle Prinzipien nicht ableitet, sondern aus den gesammelten und systematisierten Erfahrungen mit ähnlichen Problemfällen herzuleiten, d. h. zu „induzieren“ versucht. Umgekehrt zum deduktiven Modell sind die kontextgebundenen Einzelurteile und fallbezogenen Erfahrungen hier das Primäre, die allgemeinen Regeln oder Prinzipien hingegen das hergeleitete Sekundäre. Aus dieser Warte plädiert man für einen Typus einer Angewandten Ethik, der gerade als „Gegenmodell zu bestimmten Traditionslinien der modernen philosophischen Ethik“ auftritt (ebd., 14). Ausgangspunkt der Angewandten Ethik wären dann nicht Grundsatzfragen der praktischen Orientierung, sondern „relativ kleinräumige, bisweilen auch recht spezielle Probleme“ (Bayertz 2004, 53). Ein durch akute Schwierigkeiten ausgelöstes Klärungsbedürfnis spreche keineswegs die Ethik als wissenschaftliche Disziplin der Philosophie an, da diese vielmehr selbst Gegenstand der Kritik sei (vgl. Kaminsky, 144). Folglich ließe sich Angewandte Ethik weder als philosophische Disziplin noch über ihren Anwendungscharakter definieren. Sie wäre statt als „reine Wissenschaft“ als Tätigkeit des demokratischen Sich-Beratens aufzufassen, die zwischen Wissenschaft und Politik vermittelt (vgl. ebd., 149/Kettner 2000, 398). Ihr ausdrückliches Ziel sei es, auf die öffentlichen Entscheidungsprozesse bezüglich drängender Zeitfragen Einfluss zu nehmen.


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