Zehn Tage nach dem ersten Beitrag greift Agamben auf zwei seiner zentralen Begriffe zurück, um die Situation zu erfassen. Zu diesem Zeitpunkt sind in Italien nach WHO 5.886 Infektionen und 233 Todesfälle bestätigt, letzteres sind fast genau die 4%, die
Auszüge aus Giorgio Agambens "Chiarimenti":
Die Angst ist ein schlechter Ratgeber, aber sie bringt viele Dinge zum Vorschein, die wir nicht zu sehen vorgaben. Die Panikwelle, die das Land gelähmt hat, zeigt zunächst einmal deutlich, dass unsere Gesellschaft an nichts mehr glaubt, außer an das nackte Leben.
EINSCHUB
Vergleiche aus Agambens "Clarifications, trans. Adam Kotsko"1 :
TUESDAY, MARCH 17, 2020; SATURDAY, APRIL 18, 2020 ~ ADAM KOTSKO
Translator’s Note: Giorgio Agamben asked me to translate this brief essay (https://www.quodlibet.it/giorgio-agamben-chiarimenti), which serves as an indirect response to the controversy surrounding his article about theresponse to coronavirus in Italy.
Fear is a poor advisor, but it causes many things to appear that one pretended not to see. The problem is not to give opinions on the gravity of the disease, but to ask about the ethical and political consequences of the epidemic. The first thing that the wave of panic that has paralyzed the country obviously shows is that our society no longer believes in anything but bare life.
Es ist klar, dass die Italiener bereit sind, praktisch alles zu opfern, normale Lebensbedingungen, soziale Beziehungen, Arbeit, sogar Freundschaften, Zuneigung und religiöse und politische Überzeugungen, um der Gefahr einer Erkrankung zu entgehen. Das nackte Leben - und die Angst, es zu verlieren - ist nicht etwas, das die Menschen verbindet, sondern sie blendet und trennt. Andere Menschen werden, wie bei der von Manzoni beschriebenen Pest, nur noch als mögliche Angreifer gesehen, denen man unbedingt aus dem Weg gehen muss und von denen man mindestens einen Meter Abstand halten muss. Die Toten - unsere Toten - haben kein Recht auf ein Begräbnis, und es ist nicht klar, was mit den Leichen unserer Angehörigen geschieht. Unser Nachbar wurde ausgelöscht, und es ist merkwürdig, dass die Kirchen zu diesem Thema schweigen. Was wird aus den zwischenmenschlichen Beziehungen in einem Land, das sich daran gewöhnt hat, so zu leben, ohne zu wissen, wie lange? Und was ist eine Gesellschaft, die keinen anderen Wert als das Überleben hat?
Die Epidemie macht außerdem deutlich, dass der Ausnahmezustand, an den uns die Regierungen seit langem gewöhnt haben, tatsächlich zum Normalzustand geworden ist, und zwar nicht weniger beunruhigend als der erste. In der Vergangenheit gab es schon schlimmere Epidemien, aber niemand hat je daran gedacht, einen Notstand auszurufen wie den jetzigen, der uns daran hindert, uns überhaupt zu bewegen. Die Menschen haben sich so sehr daran gewöhnt, in ständigen Krisen und Notlagen zu leben, dass sie nicht zu erkennen scheinen, dass ihr Leben auf einen rein biologischen Zustand reduziert wurde und jede Dimension verloren hat, nicht nur die soziale und politische, sondern auch die menschliche und emotionale. Eine Gesellschaft, die in einem ständigen Ausnahmezustand lebt, kann keine freie Gesellschaft sein. Tatsächlich leben wir in einer Gesellschaft, die die Freiheit den so genannten "Sicherheitsgründen" geopfert hat und sich damit selbst dazu verdammt hat, in einem ständigen Zustand der Angst und Unsicherheit zu leben.
Es ist nicht verwunderlich, dass von einem Krieg wegen des Virus die Rede ist. Die Notstandsmaßnahmen zwingen uns faktisch dazu, unter einer Ausgangssperre zu leben. Aber ein Krieg mit einem unsichtbaren Feind, der in jedem anderen Menschen lauern kann, ist der absurdeste aller Kriege. In Wahrheit ist es ein Bürgerkrieg. Der Feind ist nicht draußen, er ist in uns.
Es geht nicht so sehr oder nicht nur um die Gegenwart, sondern auch um die Zeit danach. So wie Kriege dem Frieden eine Reihe von ruchlosen Technologien vermacht haben, vom Stacheldraht bis zum Atomkraftwerk, so ist es sehr wahrscheinlich, dass auch nach dem Gesundheitsnotstand versucht wird, die Experimente fortzusetzen, die den Regierungen bisher nicht gelungen sind: dass Universitäten und Schulen geschlossen werden und der Unterricht nur noch online stattfindet, dass die Menschen endlich aufhören, sich aus politischen oder kulturellen Gründen zu treffen und zu reden, und nur noch digitale Nachrichten austauschen, dass, wo immer möglich, Maschinen jeden Kontakt - jede Ansteckung - zwischen Menschen ersetzen.
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