Ende Februar 2020 wurde die COVID-19 Pandemie, die am 16.2. in China nach der Statistik der WHO bereits 51174 Personen angesteckt und 1666 Todesfälle verursacht hatte, auch in Europa, zunächst in Italien, akut. Zufällig war es ein italienischer Philosoph, Giorgio Agamben, der schon seit Jahren die im Nationalsozialismus, aber auch in aktuellen politischen Systemen, praktizierte Degradierung von Menschen zum "nackten Leben" analysiert hatte. Er begann am 26.2. mit einer Serie von Blogbeiträgen die administrativen Entwicklungen in Italien zu kommentieren und schuf damit frühzeitig einen philosophischen Referenzpunkt für die nachfolgenden Debatten.  Die Episoden sind umgehend (2020) bei Quodlibet veröffentlicht worden, 2021 in deutsch bei Turia + Kant:  An welchem Punkt stehen wir? Die Epidemie als Politik. Agamben diagnostiziert einen erschreckenden Zusammenbruch der moralischen und politischen Kultur des Westens und alt die Zukunft in düsteren Farben.

Der Philosoph ist ein herausragender Vertreter der Buchkultur. Mit seinem Blog erreichte er blitzschnell ein neues Publikum. Die Rezeption der Überlegungen Agambens ist in einem "research blog" minutiös dokumentiert. "Aphelis is an archive of items related to communication, technology and art." Philippe Theophanidis registriert die weltweite Ausbreitung  der Einträge und der damit verbundenen Interviews, Stellungnahmen und Medieninterventionen.  Aus der Zusammenstellung geht hervor, dass unmittelbar nach der ersten italienischen Publikation, noch im Februar, französische, spanische, holländische, türkische und portugiesische Übersetzungen erschienen, Polnisch, Griechisch, Russisch und Deutsch folgten Anfang bis Mitte März. Die Wirksamkeit der Gedanken zur Pandemie überstieg die aus dem Zeitalter des Buchdrucks bekannten Werte bei weitem. 

Philosophie, in diesem Fall Ethik und Kulturkritik, findet in den Medien neuartige Verbreitungsbedingungen vor. Agamben zeigt, dass sich auch im Gefolge fachspezifischer Gelehrsamkeit Publikationsformen finden lassen, die dem Zeitalter des Internets angepasst sind. Seine Blogeinträge sind philosophische Aussagen im neuen Idiom und auch Beispiele dafür, wie sich philosophische Ansprüche in dem Maß verändern, in dem sie in der neuen Umgebung bis dato unverfügbare Reaktionen auslösen.

Medienethik im WWW bedeutet, das ist an diesem Beispiel zu sehen, nicht bloß den Transport externer Inhalte und auch nicht nur die Reflexion über die Verhältnisse im Netz. Sie kann unter Umständen einen ihrerseits politisch und ethisch relevanten Eingriff in die Verhältnisse darstellen, in welche sie sich einschaltet. Die Ethik Agambens, die vom Zustand der Menschheit allgemein "in Zeiten der Pandemie" handelt, wird nicht nur im Internet vorgestellt. Sie wird durch dieses Medium ihrerseits tangiert. Sie artikuliert sich zu einem bestimmten Zeitpunkt, spricht von bestimmten Umständen und wird in einer weltbewegenden Krisensituation nachhaltig rezipiert. Im Folgenden wird versucht, ihre Botschaft innerhalb dieses Kontexts zu erläutern. Als Ergänzung werden an mehreren Stellen Arbeiten aus einer "Medienwerkstatt" über Pandemie vorgestellt, die im vergangenen Jahr an der Universität Wien stattgefunden hat.    



 


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