Notiz zu Normalität/Anormalität bei Michel Foucault und Jürgen Link

Bei Michel Foucault und anderen wie z. B. Jürgen Link wird Normalität historisch verstanden: Normalität gibt es für Foucault erst seit ca. 200 Jahren. Normalität meint daher nicht eine ahistorische Form von Alltäglichkeit. Die Frage „Bin ich normal?“ kann daher erst seit ca. 200 Jahren gestellt werden, erst seitdem es die Klassifikation von normal und anormal gibt.

So zeigt Foucault z.B. in seinem Buch „Überwachen und Strafen“ an bestimmten Milieus wie Fabrik, Schule, Militär, Gefängnis, dass seit dem 18. Jahrhundert moderne Individuen zunehmend an der Leitunterscheidung normal und anormal ausgerichtet werden. Er erwähnt Arbeits- und Gesundheitsnormen (zusammen mit einer entstehenden standardisierten Erziehung und den Normalschulen) (Foucault 1975, 237). Normalisierung heißt hier auch, die Einzelnen in einem homogenen Vergleichsfeld zu situieren und auf eine Norm, eine Regel zu beziehen, die ein Mindestmaß, ein Durchschnitt oder ein Optimum ist, und sie in Bezug auf diesen Wert zu differenzieren und in Konkurrenz zu setzen wie z. B. mit einem Notensystem, wobei immer eine Grenze zur Anormalität fixiert wird. So tritt zunehmend an die Stelle von Standeszugehörigkeiten seit dem 18. Jahrhundert „ein System von Normalitätsgraden, welche die Zugehörigkeit zu einem homogenen Gesellschaftskörper anzeigen, dabei jedoch klassifizierend, hierarchisierend und rangordnend wirken“ (Foucault 1975, 237).1

Weil jedoch hier Foucault vor allem von einer Dressur her denkt – wie z.B. bei der Fabrikation des Soldaten in den Armeen seit dem 18. Jahrhundert oder an die Disziplinierung des Arbeiterkörpers im kapitalistischen Produktionsprozess – ist hier die Normung bzw. Disziplinierung des Verhaltens analog wie die industrielle Normung von Objekten zu sehen, in der es um die Herstellung von Maschinenkörpern geht, worauf Jürgen Link in seinen Studien zum Normalismus hingewiesen hat (Link 1998).

Bei diesem Normalitätsverständnis ist Foucault jedoch nicht stehen geblieben, und er hat den Normalitätsbegriff ausdifferenziert und auch erweitert.2

Sexualtheorien und psychiatrische Theorien des 19. Jahrhunderts erfinden eine normale Sexualität, die stark mit der heterosexuellen Fortpflanzung verbunden ist, und deren Abweichungen werden als Perversionen interpretiert und mit Theorien von „Degeneration“ und „Entartung“ auf ein biologisches Substrat eine Bevölkerungskörpers bezogen. Der Anormale wird als eine Art biologische Gefahr für den Gesellschaftskörper codiert, und damit entsteht ein Rassismus, der zur Eugenik führte. Vor allem die Psychoanalyse war jedoch dabei ein radikaler Gegner dieses ganzen Komplexes aus Perversion-Entartung-Vererbung und stand den Rassimen und Eugeniken diametral entgegen.3


Literatur

Balke, Friedrich (2002) Der Raum der modernen Gesellschaft und die Grenzen seiner Kontrolle, in: Rudolf Maresch, Niels Werber (Hg.), Raum – Wissen – Macht, Frankfurt/M., S. 117–134.

Foucault, Michel (1974–75): Die Anormalen. Vorlesung am Collège de France 1974–1975, Frankfurt/M. 2005.

Foucault, Michel (1975): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/M. 1976.

Foucault, Michel (1975–76): In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesung am Collège de France 1975–76, Frankfurt/M. 1999.

Foucault Michel (1976): Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt/M. 1977.

Foucault Michel (1977–78): Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I. Vorlesung am Collège de France 1977–78, Frankfurt/M. 2004.

Foucault, Michel (1978–79): Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II. Vorlesung am Collège de France 1978–79, Frankfurt/M. 2004.

Link, Jürgen (1998): Von der „Macht der Norm“ zum „flexiblen Normalismus“, in: Joseph Jurt (Hg.), Zeitgenössische französische Denker: eine Bilanz, Freiburg/Br., S. 251–268.

Link, Jürgen (2005): „Normalisierungsgesellschaft“?, „Kontrollgesellschaft“?, „flexibler Normalismus“? Über einige aktuelle Gesellschaftskonzepte mit Blick auf die „Reformen“, in: kultuRRevolution, 49, S. 4–10.

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