In ihrem Band „Die Macht der Geschlechternormen“ nimmt die Philosophin Judith Butler die durch Machtansprüche strukturierte Norm stärker in den Blick. War es in ihren früheren Werken noch eine durch Foucault geprägte Machtanalyse, so ist es nun die Norm in ihrer zweifachen Funktion, die Butler in den Vordergrund rückt: Einerseits stiftet die Norm das menschliche Dasein in der Sozialität zuallererst, und damit macht die Norm ein konstitutives Moment der Subjektivierung aus, zugleich bildet sie eine das individuelle Dasein reglementierende Begrenzung. In ihrer Auseinandersetzung mit Normen richten sich Butlers Überlegungen, wie in ihren vorhergehenden Schriften, auf diejenigen Formen, mit denen Normen eingesetzt, vor allem aber auch untergraben werden können. Die Frage, die hier gestellt wird, ist die nach den Abweichungen, die den regulatorischen Prozess unterbrechen können. Butler hält fest: „Es kann sein, dass wir uns die soziale Veränderung unterschiedlich vorstellen. […] Wir können ganz verschiedene Ideen davon haben, was soziale Veränderung ist oder was eine verändernde Praxis auszeichnet. Wir müssen aber auch eine Vorstellung davon haben, wie sich die Theorie zum Prozess der Veränderung verhält, ob Theorie selbst eine verändernde Arbeit ist, zu deren Wirkungen unter anderem die Veränderung gehört.“ (Butler 2009, 325) Dabei misst Butler der Theorie eine entscheidende Kraft bei, wenn sie fortfährt: „Im Folgenden werde ich die Ansicht vertreten, dass Theorie selbst verändernd wirkt, ich stelle das deshalb schon vorab fest.“ (Butler 2009, 325) Wie wir also denken, wie wir den Begriff der Norm immer wieder perspektivieren und befragen, ist von entscheidender Bedeutung. Butler ist jedoch auch vorsichtig und idealisiert die Kraft der Theoriebildung nicht, „[m]an muss aber auch wissen, dass ich nicht der Meinung bin, Theorie an sich sei schon ausreichend für eine soziale und politische Veränderung. Neben der Theorie muss noch etwas geschehen, […].“ (Butler 2009, 325) Das noch etwas geschehen muss, zeigt sich auf vielfältige Weise. Zumeist sind es jene Phänomene, in denen das Normale, Normativitäten – konkrete Effekte von Normen also – einzelne Subjekte einschränken und begrenzen in ihrer Freiheit, die Butler in den Blick nimmt. Widerstand regt sich, Aufbegehren. Fragen nach der Veränderung von Normen werden laut. Was aber, wenn – wie im Falle einer Pandemie – weniger individuelles Aufbegehren und der Wunsch nach Veränderung, die Umschreibung der Normen motiviert, sondern medizinische Notwendigkeiten, politische Erlasse etc. Diese Art der Eingriffe erzeugen einen Ausnahmezustand und es lässt sich nicht leben im permanenten Ausnahmezustand. Insofern gibt es auch ein Festhalten an der Normalität des gewohnten Alltags, das sich nicht aus Gleichgültigkeit, sondern auch aus Widerständigkeit speist. Einer Widerständigkeit, die danach begehrt, weiterhin zusammenzukommen, sich nicht vereinzeln zu lassen, einander zugewandt zu bleiben, auch darin liegt eine Form der Dissidenz, die sich nur auf einem schmalen Grad realisieren kann. Judith Butler erinnert uns daran, dass wir inmitten von Prozessen sozialer Veränderung alle „laienhafte Philosophen“ sind (Butler 2009, 326). Und also haben wir inmitten von Prozessen wohl oder übel auf die Aufgabe des Denkens. Sie schreibt: „Wenn die Norm das soziale Überleben anscheinend zugleich garantiert und bedroht (sie ist, was man braucht, um zu leben; sie ist das, was einen auszulöschen droht, wenn man sie lebt), dann verbinden sich Konformität und Widerstand in einem gemischten und paradoxen Verhältnis zur Norm, das eine Form des Leidens und potentieller Ort der Politisierung ist.“ (Butler 2009, 344/345)

Dass die neue Normalität also anstrengend ist, ist vielleicht Indiz dafür, dass wir bereits mit der Aufgabe des Denkens betraut sind, mit ihr befasst sind, und dieser Tätigkeit nachkommen?

Es gibt nicht wenige Stimmen, die sagen, die Pandemie wirke wie ein Kontrastmittel, das der Gesellschaft verabreicht wurde und das sichtbar macht, woran wir leiden, was uns schwächt oder schädigt, aber auch, was unverzichtbar ist, was besser umverteilt, stärker unterstützt oder ausgebaut gehört. Bereits vor der COVID-19 Pandemie hatten wir es nicht nur mit einer sozialen Frage zu tun, sondern mit sozialen Fragen, im Plural also. Dazu gehören Fragen danach, wie sich die soziale Ungleichheit bekämpfen und verändern lässt, wie die Ausgrenzung ökonomisch und kulturell marginalisierter Gruppen sichtbar machen lässt und wie wir diese neu und anders verhandeln können. Welchen Stellenwert hat die menschliche Arbeit – noch – in Zeiten von Digitalisierung und der Entwicklung künstlicher Intelligenzen, brauchen wir andere Arbeitsformen und einen anderen Arbeitsbegriff für spezifisch menschliche Vermögen? Was setzen wir der Ökonomisierung sämtlicher Lebensbereiche entgegen? Wie denken wir unsere Existenz auf einem Planeten, der unter der Ausbeutung unserer Spezies ächzt? Welche ökologischen Veränderungen – der Landwirtschaft, der Verkehrspolitik, der Wirtschaft – sind wir bereit anzustoßen? Bislang sind viele dieser Fragen noch offen und unbeantwortet. Hat die Pandemie begonnen einige dieser Parameter des politischen Diskurses zu verändern? Gilt das neoliberale Dogma der Deregulierung noch ungebrochen? Wie wichtig soziale Wohlfahrtssysteme sind, wie unverzichtbar Investitionen im Gesundheitswesen und faire Gehälter, all das lässt sich nicht mehr leugnen. Wie können wir verhindern, dass all dies nicht sofort wieder vergessen wird, sobald die Krise „vorbei“ ist, welche politischen, sozialen Utopien braucht es jetzt, wie soll eine andere Normalität gedacht werden? In einem Sinne, dass dies nicht nur anstrengend, sondern auch lustvoll sein kann?


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