Normalität erinnert an eine klumpige Sauce, an eine Mischung, die nicht gut ausschaut und auch nicht allen gut schmeckt. Anders gesagt: im Ausdruck „Normalität“ bzw. „neue Normalität“ sind mehrere Bedeutungen fusioniert. Das hat zu tun damit, dass wir in unterschiedlichen Bereichen von Normalität sprechen.

Wir finden es normal, wenn die Füße eines Menschen ungefähr gleich lang sind. Als normal gilt uns auch, wenn jemand, die Hunger hat, etwas isst. Es erscheint uns vielleicht auch normal, in der Nacht zu schlafen und am Tag zu arbeiten. Normal ist also, was wir gewöhnt sind. Normal finden wir Alltägliches, Selbstverständliches, etwas, was wir immer tun. In diesem Sinn erscheint es uns normal, um sieben Uhr aufzustehen, wenn wir es in der Regel so machen. Es wäre aber zu eng, das Normale auf das Gewohnte zu beschränken. Die Normalität gleichlanger Füße oder der Nahrungsaufnahme bei Hunger ist etwas anderes als unser regelmäßiges Frühaufstehen. Denn die gleichlangen Füße oder das Essen im Gefolge von Hunger gelten als normal, weil sie bei (fast) allen Menschen vorkommen. Eine statistische Norm steht für eine andere Normalität als die Alltagsnormalität.

Komplizierter wird es, wo sich diese beiden Bereiche überlappen. Wir finden es von unserer Alltagserfahrung her ganz normal, wenn jemand weint, weil eine Angehörige gestorben ist. Wenn aber jemand anhaltend traurig verstimmt ist, ohne dass es von außen verständlich, nachvollziehbar wäre, dann sprechen wir von einem melancholischen, medizinisch von einem depressiven Zustand. Den halten wir nicht mehr für normal. Sondern wir sehen zumindest schwere Verstimmungszustände als behandlungsbedürftig an, um es jemanden zu ermöglichen, wieder eine / seine „normale“ Stimmungslage zu erreichen.

Doch so klar ist nicht, was eine normale Stimmungslage ist. Normalität und mit ihr verbundenen Normen sind auch in der Medizin niemals etwas Fixes, Unveränderliches. Normen und Normalität werden immer auch hergestellt. Ein Beispiel dafür ist der Trauerzustand nach dem Tod einer nahestehenden Person. Für Trauer haben wir uns früher viel mehr Zeit gelassen. Heute reichen laut Diagnosekatalog schon wenige Wochen, um medizinisch eine früher noch normale Trauerreaktion zu einer Depression werden zu lassen.

In seinem Standardwerk Das Normale und das Pathologische unterstreicht Georges Canghuilem, wie wichtig eine umfassende Berücksichtigung der Erlebnis- und Erfahrungsperspektive der betroffenenen Kranken ist. Was eine Störung bedeutet, ist in den Normen nicht festgelegt. Eine kalte, quantitative empirische Perspektive sieht Krankheit nur als Abweichung von einem physiologischen oder anders eingeengten Ideal, übergeht damit nicht nur qualitative Aspekte, sondern ebenso die Individualität der Kranken. Außerdem muss die Durchschnittsauffassung, Canguilhem zufolge, die Realität rhythmischer Schwankungen verfehlen. Vor allem aber übergeht ein biometrischer Standpunkt die Tatsache, dass sich in physiologischen Normen immer auch gesellschaftliche Normen darstellen. Speziell beim Menschen zeugt, so Canguilhem, die statistische Häufigkeit immer auch von einer Normativität der Gesellschaft: „Beim Menschen wäre also ein Merkmal nicht normal, weil es häufig ist, sondern es wäre häufig, weil normal, d. h. normativ innerhalb einer bestimmten Lebensweise“ (Canguilhem 1974, 128).

Normalität ist nichts Naturgegebenes. Normalität im nicht alltäglichen Sinn von Habitualisierung ist ein Konzept, mit dem Konsequenzen von Konventionen, von Übereinkünften angesprochen werden. Normen werden festgesetzt, vorgegeben und in der Folge auch bekämpft. Damit zusammen hängen Prozesse der Normalisierung wie zum Beispiel die Tatsache, dass es den meisten weniger abnormal als noch vor wenigen Monaten vorkommt, mit einer Mund-Nasen-Maske in ein Geschäft zu gehen. Hier geht es um die dritte Bedeutung von Normalität, ihre soziale Seite. Was normal sein soll, dafür steht im politischen Zusammenhang eine Vorgabe, ein Gesetz oder eine Verordnung. Für das Normale wird hier auf Vorschriften rekurriert. Im Sozialen ist die Normalität mit Normativität verknüpft. Unter dem Normalen wird hierbei das Richtige, das sozial Akzeptable verstanden.

Im Politischen beschreibt die Frage, was normal ist und was als abnormal gelten soll, ein umstrittenes Feld. Michel Foucault hat dargestellt, dass die Norm, die Normalisierung seit dem 18. Jahrhundert als ein eigener Aspekt von Macht hinzutritt. Sie greift zu auf das Krankenhauswesen, die Gesundheitspolitik, auf das Erziehungswesen, die Schulen, die Ausbildung, und auf die industrielle Produktion. Überall haben wir es mit Normalisierungseffekten zu tun. Die Norm trägt einen Machtanspruch in sich. Und wenn wir von Normalisierung sprechen, dann werden diese Machtansprüche implizit auch mittransportiert.

Was will die von Foucault beschriebene Norm aus ihrer Machtposition heraus? Sie will nicht exkludieren, nicht ausschließen, sondern vor allem korrigieren. Es lassen sich dabei sogenannte protonormalistische Strategien von flexibel normalistischen Strategien unterscheiden. Bei protonormalistischen Strategien werden Regeln vorgegeben, bei flexibel normalistischen Strategien erhält das Individuum das Recht, sich selbst zur Norm zu verhalten.

Das alltäglich Normale, das statistisch Normale und das sozial Normale werden in Corona-Zeiten, in denen Fragen des Lebens, des Überlebens, des nackten Lebens auf einmal in den Vordergrund geraten sind, gemeinsam virulent (aktuell in einem ganz wörtlichen Sinn). Was (statistisch ab)normal ist, zeigt sich seit einigen Monaten verstärkt an Infektionszahlen, an Zahlen von Getesteten, Genesenen und an Mitteilungen über Todesfälle. Die Normen der Gesundheit vermischen sich mit Normen, die politisch ausgehandelt, vor allem aber erlassen werden. Protonormalistische Strategien gehen Hand in Hand mit flexibel normalistischen Strategien. Das alltägliche Leben ist nicht mehr normal, wird erschüttert durch Normalitätsverluste – im Medizinischen wie im Politischen.

Die sogenannte neue Normalität kann zumindest dreierlei heißen: mehr Infektionen, mehr Tote als zuvor, andere soziale, andere politische Normen als zuvor oder neue Gewohnheiten im Alltag. Schon allein diese Vielfalt an möglichen Lesarten macht die neue Normalität anstrengend.

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