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Dieser allgemeine Befund erlaubt eine Geschichte der Auffassungen des Normalen in unterschiedlichen Lebenssphären, vor allem eine (noch nicht versuchte) Geschichte der Stellungen zum Normalen, sowie spezielle Geschichten der einschlägigen Terminologien. Im Vorgriff auf eine solche Übersicht, die sich weitgehend mit einer Geschichte der Auffassungen von Gesundheit und Krankheit und ihrer metaphorischen Übertragung auf die verschiedensten Lebensbereiche decken würde, läßt sich als eine wesentliche Zäsur die Ersetzung des Begriffs der Gesundheit durch den der N. gegen Ende des 18. Jh. festhalten. Damit kommt ein Prozeß zum Abschluß, in dem sich die neuzeitliche Auffassung, daß der Mensch die Natur bezwingen und seinem normativen Willen unterwerfen kann, durchsetzt. Die Krankheit wird nicht mehr als fremdes Wesen oder als innerer Kampf gegensätzlicher Kräfte aufgefaßt, das Pathologische vom Normalen nicht mehr wie zwei heterogene Qualitäten voneinander unterschieden: vielmehr geht es um die Klärung des Verhältnisses von Normalem und Pathologischem. Im Laufe des 19. Jh. wird «die These von der wirklichen Identität der anscheinend so verschiedenen und von der menschlichen Erfahrung so gegensätzlich gewerteten normalen und pathologischen Lebensphänomene zu einer Art wissenschaftlich approbiertem Dogma, dessen Übertragung auf das Gebiet der Philosophie und Psychologie sich wohl dem Prestige verdankte, das es in den Augen der Biologen und Mediziner besaß» [13].

Unter Berufung auf F.-J.-V. BROUSSAIS, insbesondere seine Schrift ‹De l'irritation et de la folie› (1828), ist die These von der substanziellen Identität und bloß quantitativen Differenz von Gesundheit und Krankheit, Pathologischem und Normalem mit besonderem Nachdruck von A. COMTE vertreten worden. Die Auffassung, daß die Krankheiten wesentlich «im Übermaß oder Mangel an Reizung der entsprechenden Gewebe im Verhältnis zum Normalzustand» bestehen (Broussais), wird von Comte als «Prinzip Broussais'» zu einem allgemeinen Axiom erhoben und auf die Gesellschaftswissenschaft angewandt, die Comte als eine Theorie der Ordnung aus der Analyse der Krise der Revolution versteht. Noch in den späten Zusammenfassungen seiner Lehre verweist Comte auf den Anstoß, die seine neue Wissenschaft der Soziologie von der Biologie erfahren hat, zumal von «jenem großartigen Prinzip, dessen Entdeckung ich Broussais zugeschrieben habe, weil es sich aus der Gesamtheit seiner Arbeiten ergibt, wenngleich ich allein seine allgemeine und unmittelbare Formel aufgestellt habe. Bis dahin hatte man angenommen, der pathologische Zustand werde von gänzlich anderen Gesetzen beherrscht als der Normalzustand; folglich war mit der Erforschung des einen nichts über den anderen ausgemacht. Broussais wies nun nach, daß die Krankheitsphänomene substanziell mit denen der Gesundheit identisch und lediglich der Intensität nach von ihnen unterschieden sind. Dieses einleuchtende Prinzip wurde zur systematischen Grundlage der Pathologie, welche somit dem Ganzen der Biologie eingeordnet werden konnte ... Die Einsichten, die wir jenem Prinzip bereits verdanken, lassen seine künftige Leistungsfähigkeit nur ahnen. Nach enzyklopädischem Prinzip kann es zumal auf die geistigen und sittlichen Funktionen übertragen werden; auf sie ist es noch keineswegs in gebührendem Maß angewendet worden, so daß ihre Erkrankungen unser Erstaunen und unsere Erregung hervorrufen, ohne uns einer Einsicht näher zu bringen ... Im Gesellschaftskörper kommt es wegen seiner größeren Kompliziertheit zu Störungen, die noch gravierender, vielfältiger und häufiger sind als im Einzelorganismus. Ich wage zu behaupten, daß das Broussaissche Prinzip auch auf diese Probleme übertragen werden muß; ich selber habe es häufig zur Konsolidierung und Präzisierung soziologischer Gesetze herangezogen. Die Analyse der Revolution kann freilich keinen Beitrag zur positiven Erforschung der Gesellschaft leisten, wenn die logische Einübung anhand der einfacheren Beispiele aus der Biologie fehlt» [14].

Die Vorstellung, daß Gesundheit und Krankheit von denselben Gesetzmäßigkeiten bestimmt werden, ist allgemein charakteristisch für das Verhältnis von Physiologie und Pathologie im 19. Jh. und ist vielfach bezeugt [15]. Für C. BERNARD, der sich selbst als den eigentlichen Gründer der experimentellen Medizin sah, war die Medizin als Experimentalwissenschaft allererst durch diese Ansicht begründbar, die es erlaubte, pathologische Schäden als Experimente der Natur zu betrachten und die physiologischen Gesetze aus den pathologischen Erscheinungen zu erschließen wie andererseits alle pathologischen Phänomene physiologisch zu erklären [16].

Die Ausstrahlung dieser Auffassungen des Gesunden und Kranken wird von einer Aufzeichnung FR. NIETZSCHES aus dem Frühjahr 1888 unter dem Stichwort «décadence» bezeugt: «Ich habe mich gefragt, ob man nicht alle diese obersten Werthe der bisherigen Philosophie, Moral und Religion mit den Werthen der Geschwächten, Geisteskranken und Neurastheniker vergleichen kann: sie stellen, in einer milderen Form, dieselben Übel dar ... der Werth aller morbiden Zustände ist, daß sie in einem Vergrößerungsglas gewisse Zustände, die normal aber als normal schlecht sichtbar sind, zeigen ...» [17]. Nietzsche zitiert anschließend, zur Begründung dieser Überlegungen, aus C. BERNARDS ‹Leçons sur la chaleur animale›: «Gesundheit und Krankheit sind nichts wesentlich Verschiedenes, wie es die alten Mediziner und heute noch einige Praktiker glauben. Man muß nicht distinkte Principien, oder Entitäten daraus machen, die sich um den lebenden Organismus streiten und aus ihm ihren Kampfplatz machen. Das ist altes Zeug und Geschwätz, das zu nichts mehr taugt. Thatsächlich giebt es zwischen diesen beiden Arten des Daseins nur Gradunterschiede: die Übertreibung, die Disproportion, die Nicht-Harmonie der normalen Phänomene constituieren den krankhaften Zustand. Claude Bernard» [18].

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