[Historisches Wörterbuch der Philosophie: Normal, Normalität. HWPh: Historisches Wörterbuch der Philosophie, S. 23162
(vgl. HWPh Bd. 6, S. 920 ff.)]

Normal, Normalität (engl. normal, normality; frz. normal, normalité; ital. normale, normalità)

I. Die Griechen verbanden den Begriff ‹normal›, soweit sie ihn nicht mit ‹gesund› usw. gleichsetzten, mit dem Begriff ‹Natur› (φύσις): Das Normale ist das Naturgemäße (τὰ κατὰ φύσιν). Dabei kommt dem Begriff (normal) jene Zweideutigkeit zu, die dem Naturbegriff eigen ist. ‹Natur› meint – so besonders deutlich in den Hippokratischen Schriften – zum einen die durchschnittliche, ‘natürlicheʼ Beschaffenheit, zum anderen auch etwa den gesunden Zustand des Körpers und seiner Organe und damit den Idealzustand, dessen Wiederherstellung Ziel der ärztlichen Therapie ist [1]. Das Ineins des deskriptiven und normativen Elements des ‘Normalenʼ ist ein durch die Geschichte bleibendes Charakteristikum dieses Begriffs.

Die δικαίη (oder δικαιοτάτη) φύσις als Normalzustand ist ein speziell ärztlicher Normbegriff [2]. Auch ἄρτιος und τετράγωνος können in diesem Sinne ‹normal› bedeuten. Gegenbegriff ist τὸ βίαιον, das Naturwidrige, Abnorme [3]. Da die Natur für die Antike jedoch keineswegs immer das Regelmäßige impliziert («natura varie ludens» [4]), schwankt der an sie gekoppelte Begriff ‹normal›.

Die lateinischen Bezeichnungen bieten eine genaue Parallele zum Griechischen: ‹naturalis› bezeichnet, zumal bei den Ärzten der Renaissance und etwa in Verbindung mit ‹philosophia›, die Lehre vom Normalzustand des menschlichen Körpers, d.h. die Physiologie. Das Adjektiv ‹normalis›, aus der Geometrie stammend (von norma, das Richtmaß, das Winkelmaß, die Norm), gewinnt vor allem in der Physiologie des 18. und 19. Jh. terminologischen Vorrang (Normalgesetze, Normalplasma, Normalpuls). Auch hier ist der Normalzustand im Grunde ein Ideal. J. CHR. REIL spricht – in Analogie zu «Ideal» – von «dem Normal» sowie – KANTS Terminus aus der ‹Kritik der Urteilskraft› aufnehmend [5] – von der «Normalidee» [6]. Diese ist die «blosse subjeetive Regel für den Beobachter, der die Natur danach beurteilt, und das als Anomalie anmerkt, was von dieser Regel abweichend in der Natur angetroffen wird» [7]. Das Normale ist – so REIL – nicht etwas empirisch-konkret Gegebenes, sondern ein «abstractes Produkt des Verstandes» [8].

Anmerkungen.

[1] Vgl. die Belege bei M. MICHLER: Die prakt. Bedeutung des normativen Physis-Begriffs in der hippokrat. Schr. de fracturis – de articulis. Hermes 90 (1962) 385–401.

[2] HIPPOKRATES, π. ἀγμῶν 1.

[3] a.O. 30.

[4] Vgl. K. DEICHGRÄBER: Natura varie ludens. Abh. Akad. Mainz 3 (1954).

[5] I. KANT, KU § 17.

[6] J. CHR. REIL: Entwurf einer allg. Pathologie (1815) 1, 261ff.

[7] a.O. 262.

[8] a.O. 265.

Literaturhinweise. M. MICHLER s. Anm. [1]. – F. KUDLIEN: The old Greek concept of ‘relativeʼ health. J. Hist. behavioral Sci. 9 (1973) 53–59.

F. KUDLIEN

II. Von der Etymologie her bedeutet ‹normal› das, was der Regel gemäß, regelmäßig ist; das, was sich weder nach rechts noch nach links neigt, sich also in der richtigen Mitte hält. Daraus leiten sich zwei Bedeutungen her: im gebräuchlichsten Wortsinn das, was für die Mehrzahl der Vertreter einer bestimmten Gattung zutrifft oder was den Durchschnitt bzw. die Maßeinheit eines meßbaren Merkmals ausmacht [1]. Der Begriff kann demnach sowohl eine Tatsache bezeichnen als auch einen «Wert, welcher der Tatsache vom Sprecher aufgrundeines von ihm übernommenen allgemeinen Urteils beigelegt wird» [2].

Diese Zweideutigkeit von Deskriptivem und Normativem zeigt sich auch an dem Gegenbegriff ‹Anomalie› (griech. ἀνομαλία, Ungleichheit, Unebenheit: verneintes Substantiv zu ὁμαλός, gleichmäßig, eben, glatt), indem dieser häufig irrtümlich von νόμος, ἄνομος abgeleitet worden ist, so daß er in etwa der Verneinung von lat. ‹norma› entspricht. Durch diese irrtümliche Etymologie wird ein deskriptiver Begriff zu einem normativen. G. CANGUILHEM [3] hat in diesem Zusammenhang auf ein Kuriosum der französischen Begriffsgeschichte hingewiesen: E. GEOFFROY SAINT-HILAIRE interpretiert trotz dieser falschen Etymologie «Anomalie» im deskriptiven Sinne als «Unregelmäßigkeit» und bestimmt sie in der Anatomie als individuelle Abweichung vom artspezifischen Typus: «jede organische Besonderheit, die ein Einzelwesen im Vergleich zur großen Mehrheit der Vertreter seiner Art, seines Alters und seines Geschlechts aufweist, macht das aus, was man eine Anomalie nennen kann» [4]. Abarten, Mißbildungen, Heterotaxien und Monstrositäten gehören für Geoffroy Saint-Hilaire als Arten zur Gattung Anomalie.

Begriffe und Gegenbegriffe des Normalen lassen sich allgemein normativ oder deskriptiv interpretieren, wobei in letzter Instanz eine normative Entscheidung unumgänglich ist. Zwar ist nicht jede Anomalie pathologisch, «doch nur weil pathologische Anomalien vorkommen, gibt es eine besondere Wissenschaft von den Anomalien, die qua Wissenschaft normalerweise bestrebt ist, jede in der Definition der Anomalie womöglich implizierte normative Vorstellung auszuschalten ... Die Anomalie ist eine individuelle Abweichung, welche verhindert, daß zwei Lebewesen einander vollständig substituieren können ... Verschiedenheit aber bedeutet nicht Krankheit. Das Anomale ist noch nicht das Pathologische ... Das Pathologische hingegen ist das Anormale» [5].

Definiert man Normales und Anormales durch ihre relative statistische Häufigkeit, so kann man auch das Pathologische für normal erklären, und andauernde volle Gesundheit läßt sich dann als anormal bezeichnen. Aber auch dann, wenn man die Krankheit in dieser Weise als normal ansieht, ist sie doch ein Zustand, der im Interesse des Überlebens bekämpft werden muß; vorgesehen ist sie also nur als ein im Verhältnis zum Fortbestand des Lebens, das hier als Norm fungiert, anormaler Zustand: die Begriffe ‹krank›, ‹pathologisch› und ‹anormal› sind einander demnach gleichzusetzen [6].

Der Kern des Normativen im Begriffsfeld des Normalen sowie des Anomalen und Anormalen führt CANGUILHEM in seiner Untersuchung über ‹Das Normale und das Pathologische› [7] zu der allgemeinen These, daß in den Wissenschaften vom Leben die Wertung einer biologischen Tatsache (und dies läßt sich auch anthropologisch formulieren) nicht nur von einem zu ihr stellungnehmenden Menschen vorgenommen wird, sondern vom Leben selbst, indem dieses auf Verletzungen usw. reagiere. Denn das Leben ist gegenüber den Bedingungen, unter denen es möglich ist, nicht indifferent, sondern es enthält «eine Polarität und damit eine unbewußte Wertsetzung», ist also «letztlich eine normative Aktivität». Das therapeutische Bedürfnis ist damit, unabhängig von seinen soziologischen und geschichtlichen Ursprüngen, Ausdruck eines «vitalen Bedürfnisses» [8]: «Das Leben selbst und nicht erst das medizinische Urteil macht aus dem biologischen Normalen einen Wertbegriff, der mehr als eine statistische Wirklichkeit bezeichnet» [9]. Daraus folgt jedoch andererseits, daß es «kein Normales oder Pathologisches an sich» gibt. Anomalien oder Mutationen sind nicht per se pathologisch, sie «zeugen vielmehr von möglichen anderen Lebensnormen» [10]. Der Vorzug dieser vom Biologischen ausgehenden Analyse des Normalen und Pathologischen ist, daß sie in der Betonung der Relativität des jeweiligen Normalen den letztlich normativen Charakter der Bestimmung des Normalen nicht preisgibt, wie dies häufig in der Absolutsetzung des deskriptiven Prärogativs der Wissenschaften geschieht. Außerdem erlaubt diese Analyse eine Applikation auf die speziellen anthropologischen Disziplinen ebenso wie auf den alltäglichen Streit um das Normale. Generell kann Canguilhem feststellen: «Der normale Mensch ist der normative Mensch, der fähig ist, neue und sogar organische Normen zu setzen. Eine einzige Lebensnorm wird als Privation und nicht als Positives empfunden» [11]. Die anthropologische Verteidigung der Normalität (N.) ist zugleich ein Plädoyer für einen N.-Pluralismus und die zugehörige Toleranz gegen neue und alte Formen des Normalen. Daß die Erfahrung der Relativität des Normalen als eine Bedrohung empfunden wird, darf darüber nicht vergessen werden; festgehalten ist dies etwa in FR. HEBBELS Tagebucheintragung von 1853: «Mit Prof. Brücke im neuen Irrenhause. Grauenvoll: Massen von Wahnsinnigen zu sehen, denn dadurch wird das Unnormale scheinbar wieder normal ... Die Menschen: verstimmte Instrumente» [12].

Dieser allgemeine Befund erlaubt eine Geschichte der Auffassungen des Normalen in unterschiedlichen Lebenssphären, vor allem eine (noch nicht versuchte) Geschichte der Stellungen zum Normalen, sowie spezielle Geschichten der einschlägigen Terminologien. Im Vorgriff auf eine solche Übersicht, die sich weitgehend mit einer Geschichte der Auffassungen von Gesundheit und Krankheit und ihrer metaphorischen Übertragung auf die verschiedensten Lebensbereiche decken würde, läßt sich als eine wesentliche Zäsur die Ersetzung des Begriffs der Gesundheit durch den der N. gegen Ende des 18. Jh. festhalten. Damit kommt ein Prozeß zum Abschluß, in dem sich die neuzeitliche Auffassung, daß der Mensch die Natur bezwingen und seinem normativen Willen unterwerfen kann, durchsetzt. Die Krankheit wird nicht mehr als fremdes Wesen oder als innerer Kampf gegensätzlicher Kräfte aufgefaßt, das Pathologische vom Normalen nicht mehr wie zwei heterogene Qualitäten voneinander unterschieden: vielmehr geht es um die Klärung des Verhältnisses von Normalem und Pathologischem. Im Laufe des 19. Jh. wird «die These von der wirklichen Identität der anscheinend so verschiedenen und von der menschlichen Erfahrung so gegensätzlich gewerteten normalen und pathologischen Lebensphänomene zu einer Art wissenschaftlich approbiertem Dogma, dessen Übertragung auf das Gebiet der Philosophie und Psychologie sich wohl dem Prestige verdankte, das es in den Augen der Biologen und Mediziner besaß» [13].

Unter Berufung auf F.-J.-V. BROUSSAIS, insbesondere seine Schrift ‹De l'irritation et de la folie› (1828), ist die These von der substanziellen Identität und bloß quantitativen Differenz von Gesundheit und Krankheit, Pathologischem und Normalem mit besonderem Nachdruck von A. COMTE vertreten worden. Die Auffassung, daß die Krankheiten wesentlich «im Übermaß oder Mangel an Reizung der entsprechenden Gewebe im Verhältnis zum Normalzustand» bestehen (Broussais), wird von Comte als «Prinzip Broussais'» zu einem allgemeinen Axiom erhoben und auf die Gesellschaftswissenschaft angewandt, die Comte als eine Theorie der Ordnung aus der Analyse der Krise der Revolution versteht. Noch in den späten Zusammenfassungen seiner Lehre verweist Comte auf den Anstoß, die seine neue Wissenschaft der Soziologie von der Biologie erfahren hat, zumal von «jenem großartigen Prinzip, dessen Entdeckung ich Broussais zugeschrieben habe, weil es sich aus der Gesamtheit seiner Arbeiten ergibt, wenngleich ich allein seine allgemeine und unmittelbare Formel aufgestellt habe. Bis dahin hatte man angenommen, der pathologische Zustand werde von gänzlich anderen Gesetzen beherrscht als der Normalzustand; folglich war mit der Erforschung des einen nichts über den anderen ausgemacht. Broussais wies nun nach, daß die Krankheitsphänomene substanziell mit denen der Gesundheit identisch und lediglich der Intensität nach von ihnen unterschieden sind. Dieses einleuchtende Prinzip wurde zur systematischen Grundlage der Pathologie, welche somit dem Ganzen der Biologie eingeordnet werden konnte ... Die Einsichten, die wir jenem Prinzip bereits verdanken, lassen seine künftige Leistungsfähigkeit nur ahnen. Nach enzyklopädischem Prinzip kann es zumal auf die geistigen und sittlichen Funktionen übertragen werden; auf sie ist es noch keineswegs in gebührendem Maß angewendet worden, so daß ihre Erkrankungen unser Erstaunen und unsere Erregung hervorrufen, ohne uns einer Einsicht näher zu bringen ... Im Gesellschaftskörper kommt es wegen seiner größeren Kompliziertheit zu Störungen, die noch gravierender, vielfältiger und häufiger sind als im Einzelorganismus. Ich wage zu behaupten, daß das Broussaissche Prinzip auch auf diese Probleme übertragen werden muß; ich selber habe es häufig zur Konsolidierung und Präzisierung soziologischer Gesetze herangezogen. Die Analyse der Revolution kann freilich keinen Beitrag zur positiven Erforschung der Gesellschaft leisten, wenn die logische Einübung anhand der einfacheren Beispiele aus der Biologie fehlt» [14].

Die Vorstellung, daß Gesundheit und Krankheit von denselben Gesetzmäßigkeiten bestimmt werden, ist allgemein charakteristisch für das Verhältnis von Physiologie und Pathologie im 19. Jh. und ist vielfach bezeugt [15]. Für C. BERNARD, der sich selbst als den eigentlichen Gründer der experimentellen Medizin sah, war die Medizin als Experimentalwissenschaft allererst durch diese Ansicht begründbar, die es erlaubte, pathologische Schäden als Experimente der Natur zu betrachten und die physiologischen Gesetze aus den pathologischen Erscheinungen zu erschließen wie andererseits alle pathologischen Phänomene physiologisch zu erklären [16].

Die Ausstrahlung dieser Auffassungen des Gesunden und Kranken wird von einer Aufzeichnung FR. NIETZSCHES aus dem Frühjahr 1888 unter dem Stichwort «décadence» bezeugt: «Ich habe mich gefragt, ob man nicht alle diese obersten Werthe der bisherigen Philosophie, Moral und Religion mit den Werthen der Geschwächten, Geisteskranken und Neurastheniker vergleichen kann: sie stellen, in einer milderen Form, dieselben Übel dar ... der Werth aller morbiden Zustände ist, daß sie in einem Vergrößerungsglas gewisse Zustände, die normal aber als normal schlecht sichtbar sind, zeigen ...» [17]. Nietzsche zitiert anschließend, zur Begründung dieser Überlegungen, aus C. BERNARDS ‹Leçons sur la chaleur animale›: «Gesundheit und Krankheit sind nichts wesentlich Verschiedenes, wie es die alten Mediziner und heute noch einige Praktiker glauben. Man muß nicht distinkte Principien, oder Entitäten daraus machen, die sich um den lebenden Organismus streiten und aus ihm ihren Kampfplatz machen. Das ist altes Zeug und Geschwätz, das zu nichts mehr taugt. Thatsächlich giebt es zwischen diesen beiden Arten des Daseins nur Gradunterschiede: die Übertreibung, die Disproportion, die Nicht-Harmonie der normalen Phänomene constituieren den krankhaften Zustand. Claude Bernard» [18].

Zu dem Zeitpunkt, als Nietzsche die neue medizinische Krankheitsauffassung philosophisch virulent zu machen sucht, hat das Prinzip von Broussais, Comte und Bernard bereits begonnen, einer neuen substantialistischen Krankheitsauffassung Platz zu machen. Es gehört zu den von W. LEPENIES im Anschluß an G. Canguilhem herausgearbeiteten Eigentümlichkeiten in den «Wechselwirkungen zwischen den Wissenschaften vom Leben und den Sozialwissenschaften im 19. Jahrhundert», daß die Übertragung des medizinischen Paradigmas auf die Soziologie aus Gründen der N.- Orientiertheit der Soziologie zu einer neuerlichen «qualitativen Differenzierung von N. und Anormalität» führt [19]. Es spricht dabei einiges dafür, daß Claude Bernard diesen Weg in der Rezeption Comtes auch für die Medizin mitvollzieht: Das Paradigma, «das Krankheit und Gesundheit nur als quantitative Differenzen ansah», «existierte in den Wissenschaften vom Leben, bevor es den Positivismus im eigentlichen Sinne gab. Aber es war ausgerechnet die positivistische Soziologie, die dieses Konzept übernahm, es transformierte und an die Wissenschaften vom Leben zurückgab und so letztlich die Vorstellung einer profunden Identität normaler und pathologischer Phänomene zerstörte» [20].

Gleichwohl bleibt die Polarität des Normalen und Pathologischen für die Humanwissenschaften, die sich im 19. Jh. im Gefolge der Wissenschaften vom Leben und speziell der Medizin konstituieren, fundamental. M. FOUCAULT hat die These vertreten und bis zu einem Destruktionsversuch der Humanwissenschaften vorgetrieben, daß die Modellfunktion der Wissenschaften vom Leben im 19. Jh. letztlich auf den für sie konstitutiven Gegensatz von gesund und krank zurückzuführen ist: «Das Bewußtsein lebt, weil es verletzt werden kann, weil es verstümmelt, von seinem Lauf abgelenkt, gelähmt werden kann. Die Gesellschaften leben, denn es gibt unter ihnen kranke, die verkümmern, und andere, die gesund sind und in voller Expansion stehen. Die Rasse ist ein Lebewesen, dessen Degeneration man sehen kann. Und ebenso die Zivilisationen, bei denen man so oft den Tod hat feststellen können» [21]. Innerhalb dieser generellen Fixierung an die Polarität des Normalen und des Pathologischen bleibt die These von der bloß quantitativen Differenz zwischen beiden eine Episode, freilich auch ein Argument, auf das immer wieder zurückgegriffen wird.

In der Soziologie É. DURKHEIMS, die in der Tradition Comtes steht, ist die Unterscheidung «normaler» Phänomene von «pathologischen» grundlegend. Durkheim löst das Problem durch eine «soziokulturelle Relativierung der Phänomene des normalen und anormalen Verhaltens, die immer nur im Horizont eines bestimmten Gesellschaftstyps und darin auch immer nur in bezug auf eine bestimmte Entwicklungsphase dieses Typs verstanden werden können» [22]. Die Zuordnung einer sozialen Physiologie zu einer sozialen Pathologie erinnert an die medizingeschichtliche Herkunft der Problemstellung, auch wenn die Kontinuitätsthese nachdrücklich abgewiesen wird. Vorgeordnet ist die Feststellung, worin der «normale Zustand» überhaupt besteht; erst danach ließe sich die Frage nach dem Verhältnis des normalen zu dem entgegengesetzten Zustand beantworten [23]. Die berühmte These Durkheims freilich, daß das Phänomen, dessen pathologischer Charakter unbestritten ist, das Verbrechen, ein «regulärer Wirkungsfaktor des sozialen Lebens» und insofern «normal» ist, entspricht dem Paradigma der substanziellen Identität des Normalen und des Pathologischen: Der «Normaltypus» des sozialen Lebens kontinuiert sich durch die beiden entgegengesetzten Erscheinungsformen hindurch.

Die soziologischen Schwierigkeiten bei der Bestimmung des Normalen, seine Relativierung und gleichzeitig die Fixierung auf den «Normaltypus» der Gesellschaft, entspringen der Unsicherheit darüber, ob die moderne Gesellschaft einer Beurteilung unter diesem Gesichtspunkt überhaupt zugänglich ist. Durkheim neigt gelegentlich dazu, ihr als einer «Gesellschaft im Übergang» die Qualifikationen des «Normalen» vorzuenthalten [24].

Das Paradigma der Identität von Pathologischem und Normalem bleibt auch für die Psychoanalyse S. FREUDS weithin bestimmend. Daß «Gesundheit und Krankheit nicht prinzipiell geschieden, sondern nur durch eine praktisch bestimmbare Summationsgrenze gesondert sind» [25], ist eine oft wiederholte Auffassung Freuds, die er mit der Medizin des 19. Jh. teilt. Auch der Vorrang der «Pathologie des Seelenlebens» in methodischer Rücksicht bleibt dem Verhältnis von Physiologie und Pathologie der Medizin verpflichtet; freilich ist dieses Verhältnis in der Übertragung auf das Seelenleben einseitig: «Eines Urteils über das Normale getrauen wir uns vorläufig insoweit, als wir aus den Isolierungen und Verzerrungen des Krankhaften das Normale erraten» [26]. Vorsicht und Vorläufigkeit in der Abgrenzung pathologischer und normaler Vorgänge wird jedoch an einer entscheidenden Stelle der psychoanalytischen Theorie aufgegeben und im Sinne des Paradigmas der Identität überboten – in der Traumdeutung: «Während nun die psychoanalytische Forschung zwischen normalem und neurotischem Seelenleben überhaupt keine prinzipiellen, sondern nur quantitative Unterschiede kennt, zeigt die Analyse der Träume, in denen ja bei Gesunden und Kranken in gleicher Weise die verdrängten Komplexe wirksam sind, die volle Identität der Mechanismen wie der Symbolik» [27]. In den ‹Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse› hat Freud diese Entdeckung als die Begründung der «Tiefenpsychologie» und ihrer Anwendbarkeit auf alle Fragen menschlichen Schaffens und Tuns herausgehoben: «Aber dann erkannten wir die nahen Beziehungen, ja die innere Identität zwischen den pathologischen und den sogenannten normalen Vorgängen, die Psychoanalyse wurde zur Tiefenpsychologie, und da nichts, was Menschen schaffen oder treiben, ohne Mithilfe der Psychologie verständlich ist, ergaben sich die Anwendungen der Psychoanalyse auf zahlreiche Wissensgebiete, besonders geisteswissenschaftliche, von selbst, drängten sich auf und forderten Bearbeitung» [28]. Man darf diese Äußerung als eine Bestätigung nicht nur des konstitutiven Charakters der Polarität des Normalen und des Pathologischen für die Humanwissenschaften werten, sondern darüber hinaus als eine Erneuerung des wissenschaftsfundierenden Anspruchs des Identitätsparadigmas.

Ein Erklärungsversuch, warum die Erfassung der N. und die Bestimmung des Verhältnisses von N. und Anormalität seit dem Ende des 18. Jh. zu einem Leitthema der Humanwissenschaften wird, muß bei einem institutionsgeschichtlichen Faktum ansetzen. G. CANGUILHEM hat für Frankreich den Nachweis geführt, daß der moderne Terminus ‹normal› über die Terminologien zweier Institutionen zum festen Bestandteil der Umgangssprache geworden ist: über die Institutionen des Erziehungs- und Gesundheitswesens, «deren gleichzeitige Reform – zumindest in Frankreich – sich ein und derselben Ursache verdankt, nämlich der Französischen Revolution. ‘Normalʼ ist jener Terminus, mit dem das 19. Jh. dann sowohl den Prototyp der Schule wie den organischen Gesundheitszustand bezeichnet» [29]. Diese moderne Terminologie setzt sich in Frankreich zwischen 1759, wo der Terminus ‹normal› aufkommt, und 1834, wo «normalisé» (normalisiert) gebräuchlich wird, durch. Der Vorgang der Ersetzung des ‘altenʼ, auf Norm und Vernunft bezüglichen Sprachgebrauchs durch einen neuen, der letztlich auf den Prozeß der Normierung und Normalisierung zurückgeht, wird auch im deutschen Sprachgebrauch in den dreißiger Jahren des 19. Jh. faßbar. W. T. KRUGS ‹Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften› notiert: «Normal ist ... soviel als regelmäßig oder musterhaft. So heißt das Natur- oder Vernunftrecht ein Normakechl, und so könnte man auch die Vernunftreligion eine Normalreligion nennen. Ebenso sollen Normalschulen eigentlich Musterschulen sein, ob sie es gleich öfters nicht sind. – Abnorm heißt, was von der Norm abweicht, und enorm, was dieselbe dergestalt überschreitet, daß es an's Übermäßige und Ungeheure gränzt. – Etwas normieren heißt ebensoviel, als es nach einer Regel oder einem Muster einrichten. Normativ ist mithin einerlei mit Regulativ» [30]. Die spürbare Dynamisierung in der Auffassung des Normalen – das Normale ist Resultat von Prozeduren der Normierung und Normalisierung – legt die Erklärung nahe, die CANGUILHEM vorgeschlagen hat: In dem Zeitraum, in dem der neue, über alle Lebensbereiche ausgreifende Gebrauch des Terminus sich durchsetzt, hat «eine normative Klasse die Macht erobert, die Funktion der gesellschaftlichen Normen gleichzusetzen mit dem Gebrauch, den sie selbst von diesen – inhaltlich einzig durch sie bestimmten – Normen machte, und damit ein schönes Beispiel ideologischen Scheins geliefert» [31]. Der Vorgang der Normalisierung durch therapierende, erzieherische und disziplinierende Praxis hat seine Entsprechung auch in dem ökonomischen und technischen Rationalisierungsprozeß durch normierende Maßnahmen im industriellen Maschinensystem (Normung) [32]. Die unterschiedlichsten Maßnahmen schließen sich zu einem großen Programm gesellschaftlicher und politischer Normalisierung zusammen: die Durchsetzung grammatischer Normen, die Normen für die Industrie (Normalmeter, Normalspur, Normalarbeitstag) und für das Gesundheitswesen (Sanitätsnormativ, Normalgewicht), für die Erziehung (Normalschulen) bis zu den morphologischen Normen für Menschen und Pferde in der Armee [33]. Die Relativierung des statisch Normalen, seine Vervielfältigung und die Zurichtung auf neue Normen verdeutlichen den dynamischen und polemischen Charakter des Begriffs, der «den der eigenen Geltung nicht unterworfenen Bereich des Gegebenen negativ qualifiziert und doch auf seiner Einbeziehung beruht» [34]. Wenn NIETZSCHE in der ‹Fröhlichen Wissenschaft› gegen den Monotheismus – «diese starre Konsequenz der Lehre von Einem Normalmenschen» – polemisiert, zieht er nur die theologische Konsequenz aus dem gesellschaftlichen Sonderschicksal der Menschengattung: mit dem Glauben «an einen Normalgott, neben dem es nur noch falsche Lügengötter gibt», drohte der Menschheit «jener vorzeitige Stillstand, welchen, soweit wir sehen können, die meisten anderen Tiergattungen schon längst erreicht haben: als welche alle an Ein Normaltier und Ideal in ihrer Gattung glauben und die Sittlichkeit der Sitte sich endgültig in Fleisch und Blut übersetzt haben» [35]. Und wenn J. BURCKHARDT Rafael im ‹Cicerone› als eine «normale Persönlichkeit» [36] und Sodomas ‹Ecce homo› als eine Darstellung des «leidenden Normalmenschen in einem Augenblick der Ruhe» [37] bezeichnet, so bedient er sich des modernen Terminus in der Intention einer Rettung des Klassischen gegen die romantische und moderne Verklärung der Normenüberschreitung. Ihr folgt auch die Politik der Normalisierung, wo sie das Normale dekretiert.

Fällig wird nach einer Epoche, in der die Verklärung des Normalen noch herbeizuführender Verhältnisse und die komplementäre artistische und avantgardistische Verachtung der N. sich, ohne es wahrhaben zu wollen, die Hand gereicht haben, die «Verteidigung der Normalität» (H. M. ENZENSBERGER) [38]. Sie widerspricht den konkurrierenden Einzigkeitsansprüchen, deren Credo von A. GIDE formuliert worden ist: «Der ‘normale Menschʼ ist kaum wichtig für uns; ich möchte fast sagen, man kann ihn streichen ... Der ‘normale Menschʼ (das Wort macht mich rasend), ist jener Rückstand, jener Urstoff, der nach dem Schmelzvorgang, wenn das Besondere sich verflüchtigt hat, auf dem Boden der Retorten zurückbleibt» [39]. Soweit er nicht mit Schweigen, Regression, Beharrlichkeit [40] reagiert, antwortet der «normale Mensch» auch hierauf mit dem Stereotyp: «... ist die normalste Sache der Welt» (H. KOHL) [41].