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Die Bezeichnung Angewande Ethik ist nicht unumstritten. Wenn Ethik
eine Disziplin der praktischen Philosophie darstellt und „angewandt“ soviel
wie „praktisch“ bedeutet, wäre die „angewandte Ethik“ eine „praktische
praktische Philosophie“, was natürlich tautologisch klingt (vgl. Vieth, 19).
Denn im Unterschied zur theoretischen Philosophie bemüht sich die prak-
tische praktische Philosophie insgesamt nicht nur um theoretisches Wissen, sondern um die Orientierung der Menschen im Handeln. Seit ihren Anfängen in
der griechischen Antike zielt sie auf die Optimierung der Gestaltung des
persönlichen und gemeinsamen Lebens ab. Im ethischen Hauptwerk von
Aristoteles etwa liest man, es gehe bei seiner Untersuchung nicht darum zu
wissen, was gut ist, sondern darum, gute Menschen zu werden (vgl. Aristo-
telesAristoteles: NE, 1103, 27b). Die Anwendungsdimension scheint also gleichsam ein
Zielpunkt jeder ethischen Reflexion zu sein, und nicht nur ein nachträglich
der Theorie hinzugefügtes Anhängsel (vgl. Düwell 2002, 243). Ein genau-
eres genaueres Studium der neuzeitlichen Ethik zeigt jedoch nicht nur, dass seit Kant
die sozialethische Perspektive die individualethische fast vollständig aus der
normativen Ethik verdrängt hat (vgl. Fenner 2007, 22 f.). Bedeutsamer für
unseren Zusammenhang ist die fast ausschließliche Konzentration der neu-
zeitlichen neuzeitlichen Ethik auf die rationale Begründung allgemeiner Moralprinzipien
sowie die Klärung ethischer Grundbegriffe (vgl. Ethik, 206 f.). Während im
deutschsprachigen Raum v. a. durch den Kantianismus der Begründungsge-
danke Begründungsgedanke radikalisiert wurde, übte in den angelsächsischen Ländern die Me-
taethik Metaethik großen Einfluss aus. Insgesamt beschäftigte sich die akademische
Ethik damit hauptsächlich mit Grundsatzfragen der praktischen Philosophie.
Auf diese Weise hat man aber nicht nur die anwendungsbezogenen Über-
legungen Überlegungen vernachlässigt, sondern man kann mit Bayertz von einer damit
einhergehenden „Abwertung des Anwendungsproblems“ sprechen (Bayertz
1991, 13).
Als Paradebeispiel für diese Vernachlässigung der Anwendungsdimension
kann die Ethik Kants dienen (vgl. Ethik, 4.2.3a): Um moralisch zu handeln,
hat man nach Kant seinen Willen oder die praktische Vernunft von allen
subjektiven empirischen Bestimmungsgründen wie Trieben und Neigungen
zu reinigen. Denn moralisch wertvoll können in seinen Augen nur Hand-
lungsforderungen seinHandlungsforderungen sein, die für alle Menschen unabhängig von ihren sub-
jektiven subjektiven Zielen und zufälligen Lebensbedingungen gelten. Als Unterschei-
dungskriterium Unterscheidungskriterium zwischen moralischen und unmoralischen Handlungsregeln
kommen daher keine Inhalte, sondern allein die Form der Allgemeinheit ei-
ner einer Handlungsregel in Frage. Daraus ergibt sich das höchste Moralprinzip
des kategorischen Imperativs, der als Test für die Verallgemeinerbarkeit fun-
giertfungiert: Handle nach derjenigen Handlungsregel, die ein allgemeines Gesetz der
Menschheit sein könnte. Obgleich Kant selbst dieses Universalisierungsprin-
zip Universalisierungsprinzip an vier Anschauungsbeispielen erläutert hat (vgl. GMS, A/B 53–56), ist
deren Interpretation bis heute so umstritten, dass die genaue Anwendungs-
weise Anwendungsweise weiterhin unklar bleibt. Auf jeden Fall werden nicht einzelne Hand-
lungsweisen Handlungsweisen aus der alltäglichen Praxis einem Universalisierungstest unter-zogenunterzogen, sondern sehr generelle Handlungsregeln oder Maximen, die dazu
anweisen, wie man sein Leben als Ganzes führen soll. Bei solchen generellen
Regeln wie „In Not lege ich ein falsches Versprechen ab“ bleiben aber alle
spezifizierenden Kontextbedingungen wie die Größe oder die Ursachen der
Not unberücksichtigt. Zudem wird das logische Universalisierungsverfahren
unter Absehung von allen empirischen Interessen der vom Handeln Be-
troffenen Betroffenen allein im Kopf des Handlungssubjekts vollzogen. Stellt man sich
beispielsweise vor, das Ablegen eines falschen Versprechens wäre ein all-
gemeines allgemeines Gesetz, ergibt sich folgender logischer Widerspruch: Würden alle
Menschen versprechen, was sie nicht zu halten gedenken, wäre das Verspre-
chen Versprechen als soziale Institution unterhöhlt. Die aus dem Test resultierenden Ge-
bote Gebote oder Verbote sollen schließlich unbedingt (kategorisch) und ohne Rück-
sicht Rücksicht auf den spezifischen Einzelfall gültig sein. So hat man sich nach Kant
auch an das Lügeverbot zu halten, wenn man von einem Mörder nach dem
Verbleib des im eigenen Haus versteckten, völlig unschuldigen Freundes ge-
fragt gefragt wird (vgl. Ethik, 5.1).
Angesichts der damit illustrierten Tendenz zur Vernachlässigung und Ab-
wertung des Anwendungsproblems in der neuzeitlichen Philosophie treten in
der Gegenwart viele philosophische Ethiker für eine Rehabilitierung des An-
wendungsbezugs ein. Um nicht nur theoretische Kriterien und Prinzipien zu
begründen, sondern im alltäglichen Leben den Menschen Orientierung bie-
ten zu können, unterstützen sie das junge Unternehmen der Angewandten
Ethik. Dabei versteht man unter „Angewandter Ethik“ aus dieser Blickrich-
tung eine Teildisziplin der normativen Ethik, welche die in der „Allgemeinen
Ethik“ entwickelten allgemeinen Prinzipien auf konkrete praktische Proble-
me „anwendet“. Bei einem solchen Top-down-Modell Angewandter Ethik
wird analog zum Hempel-Oppenheim-Schema davon ausgegangen, dass
man aus den von der Allgemeinen Ethik begründeten universellen Prinzi-
pien und den gegebenen situativen Umständen die richtige Handlungsweise
ableiten, d. h. „deduzieren“ kann. Auch Kants Universalismus ist zweifellos
einem deduktiven Verständnis von Moral verpflichtet. Denn er begreift die
Anwendung des sorgfältig begründeten Moralprinzips als zweitrangiges Ge-
schäft der bloßen Unterordnung des Besonderen (die Einzelhandlung) un-
ter das Allgemeine (die Prinzipien). Ein solches deduktives Vorgehen scheint
sich auch für das utilitaristische Moralprinzip anzubieten. Dieses fordert
nämlich dazu auf, durch sein Handeln die Befriedigung der tatsächlich vor-
handenen Bedürfnisse oder Präferenzen der betroffenen Personen zu ma-
ximieren (vgl. unten, S. 34). Definiert wird die Angewandte Ethik also bei
dieser Deutungsweise als „philosophische Disziplin“, die eine „systemati-
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