Exzerpte aus: Funiok, Rüdiger. Medienethik: Verantwortung in der Mediengesellschaft. Kon-Texte 8. Stuttgart: Kohlhammer, 2007. S. 52ff

Begründungen und Argumentationsweisen der Medienethik

Im Einzelnen ist dabei auf vier Fragenkomplexe einzugehen:

(1) Nach welcher Methode geht die Angewandte Ethik vor? Wie grenzt sie sich von der Allgemeinen Ethik ab, wo braucht sie diese dennoch?

(2) Was bedeutet es, wenn die Allgemeine und die Angewandte Ethik Normen „begründen“ will?

(3) In welcher Weise haben bisher philosophische Ethiker und Medienpraktiker sowie -wissenschaftler zur Entwicklung der Medienethik zusammengewirkt?

(4) Und wie lassen sich normative Ethik und empirische Wissenschaft miteinander ins Gespräch bringen, ohne dass es dabei normative Aussagen unmerklich aus deskriptiven Aussagen abgeleitet werden, es also zu einen in der Ethik unerlaubten „naturalistischen Fehlschluss‘“ kommt?


1.3.1 Das Verhältnis von Angewandter zu Allgemeiner Ethik


Beginnen wir mit dem ersten Fragekomplex, dem Verhältnis von Allgemeiner und Angewandter Ethik. In einer "ersten und vorläufigen Bestimmung kann und muss „die Angewandte Ethik als die Anwendung ethischer Prinzipien auf konkrete Probleme definiert werden.“ (Bayertz 1991, 19) Das ist das Kernanliegen der (positiv verstandenen) Kasuistik. Im Sinne der Hermeneutik geht es um „die Aktualisierung philosophischer Einsichten in veränderten Lebenskontexten‘“ (Düwell 2002, 243), um eine „Übersetzung“ von Idealnormen oder ethischen Prinzipien (Gerechtigkeit, Achtung vor Menschenwürde, Wahrhaftigkeit) in konsensfähige, erfüllbare Praxisnormen.


Einerseits:

Das kann einmal dadurch geschehen, dass man die deontologischen Normen oder Handlungspflichten in konkrete Normen ausdifferenziert und interpretiert (und dabei ähnliche Begriffe und Perspektiven verwendet). Oder man setzt Idealnorm und Praxisnormen in eine bloß instrumentelle Beziehung; dabei müssen die Folgen dem ethischen Prinzip adäquat sein, aber nicht notwendig die konkrete Argumentationsweise. So kann in der Öko-Moral aus Motivationsgründen biozentrisch argumentiert werden, um das anthropozentrische Ziel eines „gesellschaftlich zweckmäßigen Umgangs mit der Natur“ zu erreichen (vgl. Birnbacher 2000, 34-37). Im Unterschied zur Allgemeinen Ethik gehört es also zu den Aufgaben der Angewandten Ethik, auch mit Bezug zu divergierenden (außermoralischen) Interessen, „nach Wegen zur Realisierung der Moral zu suchen, die faktisch wirksam und moralisch akzeptabel sind.“ (Bayertz 1991, 28) 

...


Andererseits:

Als zweite Bestimmung lässt sich die Angewandte Ethik als problembezogene Ethik definieren.

„Sie konstruiert keine hypothetischen Beispiele zur Illustration einer ethischen Theorie, sondern greift öffentliche Probleme der gegenwärtigen Gesellschaft auf ... Ihr Ziel ist es, die moralischen Aspekte dieser Probleme zu analysieren und das begriffliche und theoretische Instrumentarium der Moralphilosophie für ihre Lösung fruchtbar zu machen.“ (Bayertz 1991, 23)

Angewandte Ethik nimmt also gesellschaftlich relevante Fragestellungen auf, die — im Unterschied zu den schon stärker abgesicherten Problemstellungen der allgemeinen Ethik - „im politischen Sinne aktuell und insofern historisch und lokal spezifisch sind.“ (Kaminsky 1999, 146) Angewandte Ethik nehme also die Vermittlungsaufgabe zwischen Philosophie und Politik in die Hand — wobei sie sich ihrer spezifischen Mittel, nämlich der abwägenden und an Verantwortung appellierenden Argumentation, und nicht der politischen Aktion bedient, wie das die Studentenbewegung 1968 tat. .... Das Ergebnis sind dann konkrete, situativ richtige Handlungsempfehlungen - im Sinne einer vorläufigen Problembewältigung, selten einer endgültigen Problemlösung.

In der konkreten Situation liegen fast immer Wertkonflikte, ein Widerstreit von Pflichten vor. Bezogen auf diese Prinzipienkollisionen hat Ethik nach Bayertz (1991, 32) zunächst eine analytische Aufgabe: Welche Art von Konflikt liegt genau vor? Erst die Konstatierung eines Dilemmas bringe Klarheit darüber, gegen welches Prinzip man sich bei der bewussten Wahl entscheidet, d.h. welche ‚moralischen Kosten“ in Kauf genommen werden (müssen). Hinzu kommt die Theorienvielfalt der Fachwissenschaften: Was sind die relevanten Akteure, Handlungsbedingungen, unvermeidbaren Sachgesetzlichkeiten? Das Ziel der ethischen und fachwissenschaftlichen Klärung ist nicht eine theoretisch „saubere“ Lösung, sondern die bestmögliche Lösung unter Abwägung aller involvierten faktischen und normativen Aspekte. Auch zwischen moralischem Sollen und faktischem
Können muss eine realistische Vermittlung gesucht werden.

Doch trotz dieser Vermittlungsaufgabe müssen Angewandte Ethiken prinzipienorientiert bleiben. Der Ausdruck „Anwendung“ suggeriert vielleicht die Vorstellung, als verfügten wir über allgemeine, für alle Handlungsbereiche gültige oberste Prinzipien und könnten mit ihnen auf konkrete Handlungsbereiche herunterdeduzieren. Aber die situativen Bestimmungen, die bereichspezifischen Regeln und Kriterien sowie die Ergebnisse empirischer Wissenschaften sind — wie im dritten Unterpunkt noch auszuführen ist — ein notwendiger Bestandteil des hier praktizierten ethischen Argumentierens.

...

1.3.2 Normbegründung in der Angewandten Ethik


Von Aristoteles lässt sich die Logik praktischen Folgerns übernehmen (vgl. Müller 1995, 145 ff; 1996, 108-156). Demnach folgern wir nicht nur, wenn wir Ziele und Folgen bewusst abwägen, sondern auch, wenn wir aus einer erworbenen Werthaltung heraus spontan oder gewohnheitsmäßig reagieren. Als moralische „Handlungsfilter‘“ fungieren einmal Tugenden und Normen, aber auch die Kenntnis von moralischen Kernkriterien (,‚Du sollst nicht morden!“) und von entsprechenden Ausnahmebedingungen (Notwehr). Schließlich kommen wir zu einem sicheren moralischen Urteil aufgrund von Rollenvorgaben in sozialen Positionen, durch den Aufforderungscharakter bestimmter Situationen oder durch soziale Übereinkünfte und Institutionen (z.B. der des Eigentums).

In allen diesen Fällen ist also nicht nur die ethische Theorie, sondern auch das alltägliche Moralverständnis heranzuziehen. Ausgangspunkt ethischer Begründungen sind nicht in erster Linie philosophische Axiome, sondern fraglose praktische Gewissheiten — die freilich von der ethischen Reflexion auf Stimmigkeit oder Vollständigkeit zu überprüfen sind. Dabei kann die Ethik moralische Maßstäbe unter bestimmten Umständen ergänzen und korrigieren — aber nicht dadurch, dass sie diese überhaupt „erschaffe‘“, sondern sie in ihrem Sinngehalt verteidige. Mit Normen allein wird man der Komplexität moralischer Orientierungen nicht gerecht; moralische Maßstäbe werden in der Biografie des einzelnen wie in sozialen Kontexten wesentlich durch individuelle und kollektive „Tugenden“ etabliert. Weil Tugenden auf Sozialisationserfahrungen zurückgreifen, bieten sie situationsspezifisches Wissen, die Kenntnis von Ausnahmebedingungen und bewährte Muster einer Integration von Impulsen, Interessen und Zielen.

Die bevorzugte und oft ausschließliche Beschäftigung mit den Prinzipien kann sich auf eine lange philosophische Diskussion über die Begründung moralischer Urteile berufen. Doch gibt es eine Reihe von Autoren - sie werden als „Objektivisten“ in der ethischen Erkenntnislehre bezeichnet -- die hier nicht nur ein Oben von ethischen Prinzipien (und konkreteren materialen Kriterien) und ein Unten, bestehend aus der individuellen und institutionellen Handlungs- und Erfahrungssituation (als der Anwendungsebene) annehmen, sondern zusätzlich eine mittlere Ebene. Auf ihr sind die intuitiven Urteile über das Gute und Böse anzusiedeln, die moralischen Überzeugungen, welche sich nicht nur in Urteilen, sondern auch in spontanen Reaktionen und Gesten äußern, die mit Gewissheit gegebenen moralischen Annahmen. Diese mittlere Ebene spielt nach ihrer Meinung eine zentrale Rolle nicht nur bei der Anwendung auf konkrete Situationen, sondern auch für die Begründung moralischer Urteile. Wie sich zeigen wird, stehen die moralischen Überzeugungen nicht in direkter Konkurrenz zu den ethischen Prinzipien, relativieren und präzisieren jedoch ihre Funktion in der ethischen Theoriebildung sowie ihre Praxisrelevanz.


Ein Beispiel:

Um ein Beispiel für ein moralisches Urteil aus dem Bereich der journalistischen Berufsethik zu wählen: „Es ist dir nicht erlaubt, offensichtlich falsche Behauptungen über einen Menschen zu verbreiten“. Dass Lügen moralisch verwerflich ist — abgesehen vielleicht von extremen Zwangssituationen, in denen man durch eine Falschaussage das Leben eines Menschen zu retten versucht -,  gehört zu den durchgängig akzeptierten Überzeugungen der Alltagsmoral. Das Verbot der Falschaussage wird mit Gewissheit auch im Kontext der journalistischen Berufsausübung für gültig gehalten. Es ist zwar allgemein akzeptiert, auch in seiner unbedingten Gültigkeit, und dennoch werden mögliche Ausnahmen mitgedacht oder bei der Beurteilung eines konkreten Einzelfalls entwickelt. Unsere moralischen Überzeugungen sind bei aller intuitiven Klarheit und Gewissheit komplexe kognitive Systeme.

Es hat in der Geschichte der Ethik fortgesetzte Versuche gegeben, diese und andere moralische Überzeugungen von einem einheitlichen theoretischen Prinzip des Moralischen abzuleiten, nämlich von der Pflicht, das Gute zu tun (,„Sittlichkeit“ - vgl. 1.2.3). Man kann dies mit Kant deontologisch tun und dabei von einer Pflicht sich selbst gegenüber ausgehen; oder man versucht es teleologisch durch das Aufzeigen der zerstörerischen Folgen für das gegenseitige Vertrauen; andere sehen kontraktualistisch eine stillschweigende Übereinkunft als Grundlage für den Gehalt und die Geltung moralischer Normen; wieder andere gehen von einer Konsenstheorie aus oder vom Standpunkt einer bestimmten Verantwortungsethik. Aber bieten solche unterschiedlichen Ableitungen der moralischen Normen aus einem theoretischen Einheitsgrund eine Begründung des Verbots von Falschaussagen?

Die entscheidende Frage lautet hier: Was heißt es, moralische Normen zu begründen? „Nicht weniger als: durch Argumente eine Gewißheit herbeizuführen, die verlorengegangen oder erschüttert worden ist oder jedenfalls nicht besteht.“ (Müller 1995, 135) Aber vermögen diese unterschiedlichen Theorien die Moral wirklich zu begründen - in dem Sinn, dass sie durch diese Ableitungen gewisser wird? Nach den Autoren, welche die moralischen Überzeugungen als zentralen Ausgangspunkt für die Begründung von Moral ansehen (wie Müller 1995; Nida-Rümelin 1996), liegt hier ein Missverständnis über die Funktion solcher Ableitungen vor. Die ethischen Theorien machen Vorschläge dafür, wie man sich die Ausrichtung unserer Normen und Maßstäbe auf ein übergeordnetes Ziel denken kann - für den Utilitaristen ist es z.B. die Beförderung des allgemeinen Wohlbefindens. Oder sie betonen, dass ethische Normen generalisierbar und konsensfähig sein müssen, versuchen den Sinn der Moral also mit einem formalen Verfahren wie dem kategorischen Imperativ oder der diskursethischen Verhandlung von Geltungsansprüchen zu beschreiben.


Ein Mittelbereich:

Moralische Normen und Urteile auf ein solches ethisches Grundprinzip zurückzuführen, heißt genau genommen nur: erklären, warum sie mit Recht zum Bereich der Moral gehören. Prinzipien können den Gehalt der Normen in einen größeren (wenn auch abstrakteren) Kontext stellen. Aber die Gültigkeit und Gewissheit konkreter Normen können solche Erklärungen nicht erhöhen. Mit anderen Worten: Sie begründen die Moral nicht. Wenn man fragt: Warum soll man nicht lügen?, kann man „etwa folgende Antwort geben: Man soll die Würde jedes Menschen respektieren; belügt man einen Menschen, so respektiert man seine Würde nicht; deshalb soll man keinen Menschen belügen. Die Überzeugung, man solle nicht lügen, wird nicht erst durch diese Herleitung begründet. Aber falls die Theorie wahr ist, läßt sie uns verstehen, warum wir nicht lügen sollen — warum unsere Überzeugung, man solle nicht lügen, wahr ist.“ (Müller 1995, 162) Müller vergleicht die erklärende Funktion der Moralphilosophie mit derjenigen, welche die physikalische Theorie der Molekularbewegung für unsere im Alltag entwickelte Annahme hat, dass heißes Wasser schneller verdampft als kaltes. „Unsere Überzeugung, daß es sich so verhält, beruht auf Erfahrung; wir begründen sie nicht mit der physikalischen Theorie... Sie gibt eine Erklärung für etwas, das uns längst bekannt ist (ebd.).

Um moralische Normen zu begründen, genügt es also nicht, sie rational zu erklären. Das neuzeitliche Wissenschaftsideal einer streng rationalen Begründung verleitet nach Nida-Rümelin viele Ethiker zu einem ‚„epistemologischen Fundamentalismus“ (1996, 41), zu der Annahme nämlich, die logische Herleitung von theoretischen Prinzipien der Ethik trage etwas zu der Art bei, wie wir konkrete moralische Fragen lösen. Das Ausgangsmaterial für die normalen, alltagsmoralischen Begründungen seien vielmehr unsere normativen Überzeugungssysteme. Ihr enorme Komplexität und Zuverlässigkeit werde vielfach unterschätzt. Das belegen Nida-Rümelin (43) und ähnlich auch Brosda & Schicha (2000, 8) mit vier geläufigen Typen alltagsmoralischer Begründungen: Wir begründen moralische Urteile durch Bezugnahme

(1) auf zugeschriebene individuelle Rechte (Menschenrechte, Bürgerrechte, wie sie jede demokratische Verfassung garantiert;

(2) auf eingegangene Verpflichtungen, wie sie sich aus vorausgegangenen Handlungen der verpflichteten Person ergeben, z.B. ein gegebenes Versprechen zu halten;

(3) auf Pflichten, d.h. bestimmten normativen Erwartungen, die mit bestimmten sozialen Rollen verbunden sind;

(4) auf Prinzipien, wie: Man soll Schwächeren in Not helfen etc.

Die ethischen Prinzipien sind nach Nida-Rümelin zwar dazu geeignet, auf Inkonsistenzen in unseren moralischen Überzeugungen und ihre Anwendung hinzuweisen; sie können Modifikationen und Revisionen anmahnen bzw. die Adaption auf neue Anwendungsfälle sicherer machen. Aber der zentrale Ausgangspunkt unserer Urteilsbildung bleibe doch jener „Mittelbereich“ unserer moralischen Überzeugungen. Er stelle auch den eigentlichen Konsensbereich dar, von welchem man mit größerer Sicherheit ausgehen könne als von den theoretischen Prinzipien. Sie seien für die Anwendung auf konkrete Fälle zu abstrakt und außerdem gebe es hier tief greifende Meinungsunterschiede, die sich auch durch die jahrhunderte lange philosophische Diskussion nicht verringert hätten.

Ähnliche Meinungsunterschiede gibt es „unten“, bei der Einschätzung der konkreten Entscheidungssituation und der Anwendungsbedingungen. Diese bestehen häufig in empirischen Annahmen und diese beruhen auf unterschiedlichen Erfahrungen und Lebenseinstellungen. In konkreten moralischen Urteilen sind Werturteile und Tatsachenurteile oft untrennbar vermischt, so z.B. bei der ethischen Begründung des Jugendschutzes: „Du sollst dein Kind nicht Medieninhalten aussetzen, die es verwirren und belasten“ — „Bestimmte Gewaltdarstellungen verwirren und belasten Kinder dieses Alters“. Beim zweiten, dem Tatsachenurteil, gibt es stärkere Meinungsverschiedenheiten als beim ersten, dem Werturteil. Die Methode Angewandter Ethik muss also die im Alltag vorfindbare ethische Urteilsfähigkeit aufgreifen; sie „beruht darauf, zentrale Bestandteile unseres moralischen Überzeugungssystems zu rekonstruieren und zu systematisieren und auf diesem Wege Kriterien zu schaffen, die in solchen Situationen, in denen unser moralisches Urteil nicht eindeutig ist, Orientierung bieten“ (Nida-Rümelin 1996, 60). Da uns kein leicht zu rekonstruierendes System normativer Kriterien zur Verfügung steht, stellt sich das Anwendungsproblem ganz neu:

„Konkrete anwendungsorientierte Probleme der moralischen Beurteilung sind dann konstitutiver Bestandteil der ethischen Theoriebildung selbst. Feste moralische Überzeugungen ... (und) unsere moralischen Intuitionen bilde(n) das Material, aus dem das Gesamt der moralischen Urteilsfähigkeit entwickelt werden muß.“ (ebd.)

Aufgabe dieser neuen Form Angewandter Ethik sei es, eine Gewichtung unter den moralischen Überzeugungen vorzunehmen - etwa mit der Frage, welche wir im Konfliktfall aufzugeben bereit sind —, Beziehungen zwischen ihnen herzustellen, einzelne moralische Überzeugungen unter übergeordnete zu subsumieren, was zu einer Reduktion von moralischen Begriffen, Beurteilungskategorien, Regeln und Werten führt.

„Nach diesem Verständnis kann es Ethik ohne Anwendung nicht geben. Die ethische Theorie bewährt sich in ihren Anwendungen. Theoretische und praktische Fragen der Ethik bilden nicht zwei disjunkte Klassen, sondern ein Kontinuum, und die Begründungsrelationen verlaufen weder von der Theorie zur Praxis noch von der Praxis zur Theorie, sondern richten sich nach dem Gewißheitsgefälle unserer moralischen Überzeugungen.“ (ebd. 61)



Ein Intermezzo: Covid Fake News





Überblick:

Es sind also verschiedene Ebenen zu berücksichtigen: Ethischen Prinzipien, Handlungsmaximen, Vorstellungen von gelingendem Leben, sozialwissenschaftliche Forschungsergebnissen, situationsspezifische Handlungsbedingungen. Der innere Zusammenhang dieser Ebenen lässt sich am Beispiel der Verantwortung des Jugendmedienschutzes für einen wirksamen Konfrontationsschutz für Kinder gegenüber entwicklungsgefährdenden Inhalten aufzeigen.

Was folgt aus diesen metaethischen Überlegungen zum Anwendungsbezug von Ethik für die Medienethik? Aus ihnen ergibt sich einmal die Bedeutung der deskriptiven Forschungen zum Berufsethos, zur Mediennutzung, zu medienpolitischen Entscheidungen. Diese Erhebungen und Analysen bringen die vorhandenen moralischen Überzeugungen der einzelnen, an der Medienkommunikation beteiligten Gruppen ans Licht. Die dabei geäußerten Überzeugungen aufeinander zu beziehen, sie zu klären und konsistenter zu machen, ist eine wichtige Aufgabe der Medienethik. Die faktische Geltung, d.h. die Befolgung von Normen, hängt wenigstens soziologisch mit ihrer Begründbarkeit zusammen: Wenn das Bewusstsein ihrer normativen Geltung abnimmt, so schwindet auch ihre faktische Geltung. Umgekehrt kommt aber auch die angewandte Ethik nicht ohne den Bezug zum vorphilosophischen moralischen Bewusstsein aus — entweder in Form einer phänomenologischen Bezugnahme oder durch Berücksichtigung systematischer empirischer Erhebungen; sonst verlieren Bereichsethiken leicht an Bodenhaftung.

1.3.3 Medienethik — Kooperationsfeld von Medienwissenschaft und philosophischer Ethik

Als drittes Element ist der interdisziplinäre Charakter jeder Bereichsethik zu reflektieren. Interdisziplinarität wird oft gefordert, sie ist in der Realität wegen der Unterschiede in der Wissenschaftskultur schwieriger als es zunächst scheint. Wunden (1996) sieht die Schwierigkeiten im Dialog zwischen Ethikern und Kommunikationswissenschaftlern weniger in dem Unterschied zwischen sozialwissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher Methodik selbst begründet, sondern in den „unzulänglichen Vorstellungen von den Zielen und Verfahren der Ethik auf Seiten der Kommunikationswissenschaftler. ... Unzulänglich ist zum Beispiel die Vorstellung, Ethik sei ein mehr oder weniger zufällig zustandegekommenes, weil willkürlich formuliertes und ziemlich unpräzises Sammelsurium von Regeln, die jeweils unbedingte Geltung beanspruchen.“ (Wunden 1996, 317) Wunden (1996, 318 f.) beklagt, dass sich viele Kommunikationswissenschaftler kaum explizit über die „tragenden Grundwerte gesellschaftlicher medialer Kommunikation“ Rechenschaft ablegen und so die Prinzipien eines demokratischen Journalismus zu wenig als normativen Grundannahmen erkennen — um sie konsequent in ihre kommunikationswissenschaftliche Theoriebildung zu übernehmen. Öffentlichkeitsprinzip, Wahrheitspflicht und Freiheit bzw. Unabhängigkeit seien solche Grundwerte journalistischen Handelns — mit ihren Entsprechungen in der Medienordnung, in den Medienunternehmen und beim Publikum. Gerechtigkeit im Zugang zu Medien wäre ein weiteres solches Prinzip.

Theologen tun sich hier leichter. So schlug der A. Auer (1979a) vor, die jeweilige Verantwortlichkeit der an der Medienkommunikation Beteiligten von den Sachgesetzen der Massenkommunikation her zu begründen, also eine „immanente Ethik“ zu entwickeln.

„Es werden dem Kommunikator und dem Rezipienten nicht von außen irgendwelche heteronome Normen aufoktroyiert. Vielmehr können ethische Weisungen nur dann als begründet erscheinen, wenn das in ihnen artikulierte Sollen als inneres Moment der medialen Kommunikation zu erkennen ist. Ethik zielt auf die optimale Erfüllung des menschlich Sinnvollen. Die Kriterien des menschlich Sinnvollen scheinen im Vorgang der Kommunikation selbst auf und melden ihre Verbindlichkeit an.“ (Auer 1979a, 61)

So verlockend dieser Gedanke ist, in der Eigenart der Medienkommunikation grundlegende moralische Verbindlichkeiten zu entdecken, so schwierig dürfte es sein, aus ihnen konkrete und unstrittige Verpflichtungen abzuleiten. Zu unterschiedlich wird das im Medienbereich „Sinnvolle“ und „Entsprechende“ aufgefasst, zu widersprüchlich sind die Ergebnisse einer „optimalen Erfüllung‘ des im Medienbereich Möglichen und Qualitätsvollen. Ein Konsens lässt sich nicht allein durch den sozialwissenschaftlichen Blick auf die Sachgesetzlichkeiten erreichen, sondern nur wenn man unsere unstrittigen moralischen Grundüberzeugungen hinzunimmt: etwa eine übereinstimmende Interpretation der Menschenrechte, die grundlegenden Normen im Austausch von Mitteilungen wie Wahrheitspflicht, Manipulationsverzicht u.ä.. Medienethik sollte immer wieder an diese „Grundprinzipien der Kommunikationsethik“ (vgl. Funiok 1996, 10) erinnern. Dabei kann deutlich werden, dass sie im wesentlichen der Alltagsmoral und dem demokratischen Ethos angehören und nicht rein medienspezifisch gültig sind. Die Frage nach den Sachgesetzlichkeiten der Medienkommunikation bringt also zunächst einmal übergreifende, nicht nur für den Medienbereich relevante moralische Gewissheiten ins Spiel.

Unter dem Stichwort Sachgesetzlichkeiten müssen andererseits — mit Unterstützung der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft — die strukturellen Besonderheiten der Medienkommunikation gegenüber der personalen Präsenzkommunikation gesehen werden. Vor allem Theologen und Verfasser kirchlicher Dokumente neigen dazu, die Erfüllung von Idealnormen der direkten Kommunikation auch für die medienvermittelte öffentliche Kommunikation zu fordern: Da ist von der Pflicht zu „menschendienlicher“ Kommunikation die Rede, von der „Herstellung von Verständigung“ (Burkart 1995, 495 ff.; Kos 1997) oder von Gemeinschaft und Völkerverständigung („Communio et Progressio“: Päpstliche Kommission 1971) als Ziel aller Medienkommunikation. Bei der Massenkommunikation handelt es sich jedoch um eine indirekte und einseitige Kommunikation: Die Kommunikationspartner bleiben getrennt und weitgehend anonym. Mit Gehlen weist daher Wilke (1987, 240) auf die Schwierigkeit hin, dass Medienethik in dem Sinne eine „Fernethik“ darstellt, „weil im Vergleich zur personalen Kommunikation die Handlungsfolgen nicht unmittelbar zu beobachten sind und auch die Hemmungsschwellen anders liegen“. Die meisten der von uns anerkannten Verpflichtungen seien auf eine soziale „Nahsicht“ eingestellt; aufgrund der eigentümlichen Distanz in der Medienkommunikation ist man jedoch „weniger bereit, ethische Verpflichtungen gegenüber nicht anwesenden Partnern einzuhalten.“ (ebd.)

Ein anderer Gesichtspunkt ist eine gewisse Anonymisierung der Autorenschaft von medialen Aussagen. Auch wenn Redakteure für ihre Beiträge namentlich verantwortlich zeichnen (müssen), so gilt dennoch, dass Medienprodukte immer das Ergebnis einer kollektiven Bearbeitung darstellen. Das Ausgangsmaterial stammt von Nachrichtenagenturen, aus Archiven oder Vorrecherchen anderer. Der einzelne Journalist hat sie auf ihre Glaubwürdigkeit hin zu überprüfen, aber er muss sich in einem beträchtlichen Maße auf andere verlassen können. Daher komme Medienethik nicht ohne „Differenzierung zwischen Person und Rollen, Positionen, Teilsystemen und anderen sozialstrukturellen Anforderungen“ aus (Rühl & Saxer 1981, 503); auch die gewonnenen und nicht erreichten Publika seien Teil der „normativen Erwartungsstruktur“. Schließlich sind massenmediale Produkte nicht nur Teil der politischen Kommunikation einer Gesellschaft, nicht nur Wissens- und Kulturvermittlung, sondern auch „Ware“, die eine bestimmte Auflage oder Einschaltquote erbringen muss. Die ökonomische Dimension der Medien ist eine widerständige, aber nicht abschaffbare Bedingung, welche jede Medienmoral zu berücksichtigen (aber das heißt nicht: unkritisch hinzunehmen) hat.

1.3.4 Naturalistischer (deskriptivistischer) und normativistischer Fehlschluss

Der vierte und letzte Fragekomplex gilt dem Verhältnis von philosophischer Argumentation und fachwissenschaftlicher Gegenstandsbeschreibung (in Systematik und Empirie) und der damit verbundenen methodischen Problematik. Schon 1740 hatte Hume den unmerklichen Übergang „from Is to Ought“ kritisiert, den manche theologischen Ethiker vollzögen. Moore hat in seinen Principia Ethica (1970) diesen Übergang als „naturalistischen Fehlschluss“ bezeichnet: Der Prädikator „gut“ meine ein Präferenzurteil im Sinne „Dies soll sein“ — und diese normative Aussage sei logisch nicht in einem deskriptiven Urteil wie „Diese Wirklichkeit wird als lustvoll erlebt‘ enthalten. Wenn die Empirie für die eigentliche Aufgabe der Ethik, Präferenzurteile als begründet oder unbegründet auszuweisen, nichts beitragen kann — muss sich die Ethik dann der Empirie verschließen, fragt Rath (2000). Schon die Allgemeine Ethik tue das nicht, indem sie wenigstens die Umsetzbarkeit und Sachadäquatheit von moralischen Urteilen an der Alltagserfahrung überprüfe. Für die Angewandte Ethik müssten jedoch nicht alltagsempirische Erkenntnisse, sondern spezifische wissenschaftliche Kenntnisse herangezogen werden.

Ethische Relevanz haben für Rath vor allem die „vorfindbaren internalisierten Handlungspräferenzen“, also das empirisch zu erhebende Ethos der im Medienbereich handelnden Akteure (und er nennt da die Medienmacher, die Rezipienten und die Gesetzgeber). Dieses Ethos zu erheben, sei Aufgabe der deskriptiven Ethik. Dazu könne sie durch die normative Ethik angeregt werden; auch so etwas wie ein „media assessment‘ sei denkbar und wünschenswert — also der Versuch, ähnlich wie bei der Technikfolgenabschätzung, die individuellen und sozialen Auswirkungen von vorhandenen und zukünftigen Medientechnologien und Medienprodukten abzuschätzen. Was sein soll und was nicht sein soll, also die normativen Entscheidungen, müssten freilich in einem gesellschaftlichen Diskurs erörtert und konsensuell festgelegt werden.

Für das Verhältnis von normativen Aussagen zum Medienhandeln und seiner empirischen Beschreibung durch die Fachwissenschaften hält Rath (2000, 83 f.) drei Punkte fest:

„— Als angewandte Ethik bedarf die Medienethik eines empirisch abgesicherten Wissens über das Handlungsfeld Medien. Sie bekommt es aus der empirischen Medienforschung.

— Medienethik ist zugleich Themengeberin für die empirische Forschung, sofern sie das Fehlen eben dieses empirisch abgesicherten Wissens für ein spezielles Problemfeld anmahnt.

— Und schließlich erhält die Medienethik thematischen Input aus der empirischen Forschung, nämlich immer dann, wenn die empirische Forschung normative Probleme im Handlungsfeld Medien an die zuständige Disziplin verweist.“

Neben dem naturalistischen Fehlschluss, den Rath „deskriptivistischen‘ genannt haben möchte, gelte es auch einen „normativistischen Fehlschluss“ zu vermeiden. Er liegt nach Höffe (1981, 16) dann vor, wenn Ethiker meinen, allein aus begründeten Normen konkrete Handlungen und Handlungsoptionen bewerten zu können. Allein aus normativen Überlegungen heraus, ohne gründliches Befragen der Fachwissenschaften nach den spezifischen Sachgesetzlichkeiten des Handlungsbereichs, lassen sich keine konkreten Verbindlichkeiten formulieren; Ethik habe sich nun einmal „tief auf empirische Fragen einlassen.“ (Bayertz 1991, 29) Es bleibt also festzuhalten, „daß man solange nicht von einer ethischen Orientierung sprechen kann, wie man nicht einen langen Blick auf die hier und jetzt vorliegende empirische Wirklichkeit geworfen hat.“ (Schmitz 1996, 513) Die Methodik dieses Miteinanders von philosophischer Ethik und Fachwissenschaft ist für den Medienbereich noch wenig erprobt. Medienethik ist eine Bereichsspezifische Ethik ‚in statu nascendi“. So ist abschließend Kaminsky (2000) zuzustimmen, die einen offenen interdisziplinären Diskurs zwischen den Einzelaspekten der Kommunikationswissenschaft und der philosophischen Ethik einfordert:

„Medienethik kann (unter den gegebenen Rahmenbedingungen) nur als ein multiperspektivischer interdisziplinärer und offener Diskurs vollzogen werden. Ohne kompetente Diskussionsbeiträge aus medienpraktischer, technischer, juristischer, soziologischer, psychologischer, ökonomischer und vor allem moralphilosophischer Perspektive kann die konkrete Vermittlung von Können und Sollen nicht gelingen. ... Die zu erarbeitenden Normen sind nämlich erst dann angemessen, wenn die aus ihnen resultierenden Handlungen mit allen relevanten Perspektiven in Einklang stehen.“ (a.a.O., 47)




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