Tugendhat, Ernst. Vorlesungen über Ethik. 8. Aufl. Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1100. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2012.
Ein moralisches Urteil aber, also das Urteil, dass eine bestimmte Art des Handelns gut oder schlecht und in diesem Sinn geboten oder verboten sei, lässt sich nicht emprisch begründen. Nirgends in der Erfahrung finden wir vor, dass z.B das Foltern eines Menschen schlecht sei, ja es ließe sich gar nicht sagen, was damit gemeint sein sollte, so etwas empirisch begründen zu wollen." (S.14)
Fast alle von uns urteilen weiterhin moralisch absolut, aber auf die Gültigkeit dieser Urteile befragt, neigen viele dazu, sie für relativ zu halten. Wir machen uns gewöhnlich nicht bewusst, dass wir solche Urteile dann gar nicht mehr fällen dürften. An ihrer Stelle müssten explizit relative Urteile treten. Ich dürfte dann nicht mehr sagen 'Foltern ist schlecht', auch nicht einmal 'ich halte Foltern für schlecht', denn mit diesem Satz würde nur gesagt, dass ich mir der Wahrheit dieses Urteils nicht sicher bin, nicht dass ein Urteil dieser Art keinen Wahrheitsanspruch mehr haben kann; vielmehr dürfte ich dann nur noch so etwas sagen wie 'mir gefällt Foltern nicht' oder 'es stösst mich ab'. (S. 18f)
Unsere Situation ist dadurch bestimmt, dass wir entweder in einen Relativismus der moralischen Überzeugungen geraten und das heisst ... die Moral im gewöhnlichen Sinn preisgeben müssten, wenn wir uns nichts vormachen wollen, oder aber nach einem nicht-transzendenten Verständnis der Begründung moralischer Urteile Ausschau halten müssen. (S. 23)
... (die Wörtergruppen) 'muss'/'kann nicht'/'soll' und 'gut/'schlecht' ... Beide Wörtergruppen haben eine breite Palette von Verwendungsweisen, aber beide haben eine besondere Bedeutung, wenn sie grammatisch absolut verwendet werden. In diesem Fall werden sie äquivalent verwendet, und so kann man die Rede von moralischen Urteilen durch die absolute Verwendung dieser beiden Wörtergruppen definieren. (S. 35)
Z.B. 'jemanden zu demütigen ist schlecht'; wir meinen damit nicht, es sei schlecht für das Opfer der Demütigung, und auch nicht, es sei schlecht z.B. für die Gesellschaft, sondern: es ist schlecht einfachhin, und was das heißt, wird noch zu fragen sein. ... Alle Aussagen, in denen explizit oder implizit das praktische Müssen oder ein Wertausdruck ('gut' oder 'schlecht') grammatisch absolut vorkommen, drücken moralische Urteile in diesem Sinn aus. (S. 37)
Eine Vernunftnorm will ich so definieren, dass es eine Regel ist, die wir sei es mit dem Ausdruck 'es ist vernünftig ...', sei es mit dem Ausdruck 'es ist gut (oder: das Beste)...' einführen können, z.B. 'es wäre vernünftig (oder gut), jetzt aufzubrechen, wenn du die letzte U-Bahn erreichen willst' ... (S. 42)
Die Vernunftregeln sind das, was Kant Imperative genannt hat. ... und seine These war, dass die moralischen Normen eben kategorische Imperative sind. Mit einem kategorischen Imperativ ist eine Vernunftregel ohne Bezugspunkt gemeint: es wäre dann rational, etwas zu tun, nicht nur mit Bezug auf einen bestimmten Zweck und auch nicht mit Bezug auf das Wohlergehen des Handelnden oder eines anderen Wesens, sondern einfachhin. ... Nun widerspricht es aber unserem normalen Verständnis zu sagen, dass, wer sich unmoralisch verhält, auch irrational ist. Darüber hinaus scheint es dem Sinn von Rationalität überhaupt zu widersprechen, bestimmte Handlungen an und für sich als rational zu bezeichnen ... Hier muss man mit Hume annehmen, dass unsere Ziele immer schon ... vorgegeben sind und als solche die Bezugspunkte für rationales bzw. irrationales Verhalten abgeben. Was ein Handeln sein soll, das an und für sich rational ist, ist nicht zu sehen. Diese Rede scheint widersinnig. (S. 43f)