Birnbacher, Dieter. Analytische Einführung in die Ethik. 3. durchgesehene Auflage. Berlin: De Gruyter, 2013.
(1)
Es gibt einen guten Grund, der moralischen Billigung und Missbilligung von – realen und gedachten, gegenwärtigen, vergangenen und zukünftigen – Handlungen und damit moralischen Bewertungen einen zentraleren Platz und eine grundlegendere Rolle im Ganzen der Moral zuzuweisen als moralischen Forderungen oder „Imperativen“: Wir können Forderungen durch Bewertungen begründen, aber nicht andersherum. Wenn wir von jemandem im Namen der Moral fordern, eine bestimmte Handlung auszuführen oder zu unterlassen, können wir diese Aufforderung im allgemeinen durch eine entsprechende moralische Bewertung der Handlung oder der Handlungsweise, die sie exemplifiziert, begründen. So begründen wir etwa die Aufforderung, nicht zu lügen, mit der Bewertung der Lüge als moralisch falsch. Wir fordern dazu auf, die Handlung h auszuführen oder nicht auszuführen, indem wir uns auf die entsprechende Bewertung von h als moralisch richtig oder falsch beziehen. Es wäre jedoch abwegig, die Bewertung, nach der Lügen moralisch falsch ist, ihrerseits dadurch begründen zu wollen, dass man nicht lügen sollte. Das Sollen ist fundiert in einem Richtig- oder Gut-Sein, das Nicht-Sollen und Nicht-Dürfen in einem Falsch- oder Schlecht-Sein. In diesem Sinn ist die moralische Bewertung und nicht der moralische „Imperativ“ das fundamentalere Phänomen. (S.13 f)
(2)
Klugheitsurteile bewerten ein bestimmtes Handeln nach Maßgabe der Zwecke und Zielsetzungen des jeweiligen Akteurs. Sie liegen dem zugrunde, was Kant „hypothetische Imperative“ genannt hat: Empfehlungen und Ratschläge von der Form „führe die Handlung h aus, wenn du den Zweck z erreichen willst“, bzw. von der Form „führe die Handlung h aus, da du Zweck z erreichen willst“, wobei sich z auf beliebige Zwecke bezieht. Der Imperativ (die Anweisung oder Empfehlung) ist in diesem Fall „hypothetisch“, da er unter der Bedingung der dem Akteur unterstellten Zwecke steht. Hätte der Akteur andere Zwecke, würde auch der hypothetische Imperativ anders aussehen müssen.
Dass moralische Urteile kategorisch sind, bedeutet demgegenüber, dass sie das jeweilige Handeln unabhängig davon beurteilen, ob dieses den Zwecken des Akteurs dienlich ist oder nicht. Während sich Klugheitsurteile stets nur auf Mittelhandlungen beziehen, folgt aus der kategorischen Natur moralischer Urteile u. a., dass sich moralische Urteile nicht nur auf Mittelhandlungen, die zu bestimmten Zwecken ausgeführt werden, sondern auch auf Zweckhandlungen, die nicht wiederum unter Zwecken stehen, beziehen können. Nicht nur die Mittel, die ein Akteur einsetzt, um seine Zwecke zu erreichen, können moralisch mehr oder weniger billigenswert sein, sondern ebenso die Zwecke, um derentwillen er handelt. Kategorische Bewertungen von Handlungen als moralisch richtig oder falsch bilden die Grundlage dessen, was Kant „kategorische Imperative“ genannt hat: Handlungsaufforderungen, die bedingungslos in dem Sinne sind, dass sie keine Rücksicht aufdie „Neigungen“, d. h. die Interessen des Akteurs nehmen. (S. 20)
(3)
Moralische Urteile sind ihrem Gehalt nach mehr als bloße Meinungsäußerungen. Sie appellieren an die Vernunft und das Empfinden anderer und reklamieren eine über das einzelne Subjekt hinausgehende Verbindlichkeit. Wer ein moralisches Urteil abgibt, versteht sich nicht als jemand, der lediglich seiner momentanen Befindlichkeit Ausdruck gibt oder seine höchstpersönlichen Überzeugungen mitteilt. Wer moralisch urteilt, versteht sich vielmehr in der Regel als jemand, der etwas behauptet und von den Adressaten seines Urteils erwartet, dass sie das Behauptete nach- und mitvollziehen. Er fasst sein Urteil eher als eine Aussage über das Bestehen eines Sachverhalts denn als bloße Konfession oder Expression auf. Er begibt sich auf eine Ebene, von der er erwartet oder zumindest hofft, dass sie als tragfähige Grundlage für eine Verständigung mit den jeweils Angesprochenen dienen kann. (S. 24)
(4)
Wir können nun das Universalisierungsprinzip folgendermaßen formulieren: Unter den nicht-moralischen Faktoren, mit Bezug auf die moralische Beurteilungen von Handlungen begründet werden, dürfen keine sein, die ausschließlich durch Eigennamen oder durch indexikalische Ausdrücke wie „ich“, „du“, „hier“, „dort“, „jetzt“, „meine Familie“, „deine Freunde“ usw. ausgedrückt werden können. Nach diesem Prinzip müssen alle Faktoren, die als für die moralische Beurteilung relevant gelten sollen, durch sprachliche Ausdrücke von logisch allgemeiner Form ausdrückbar sein. Das bedeutet, dass singuläre moralische Urteile wie „Es ist richtig, dass du h getan hast“, „Du solltest h tun“ oder „Ich habe das Recht, h zu tun“ nicht allein mit Bezug auf Faktoren begründet werden dürfen, deren Beschreibung wesentlich die Ausdrücke „ich“ und „du“ enthalten. Wenn ich das Recht habe, h zu tun, dann darf dies nach dem Universalisierungsprinzip allein in Faktoren begründet sein, die nicht so fest an meine Person gebunden sind, dass sie nicht im Prinzip auch anderen offenstehen. Wenn du h tun sollst, dann kann zu den Faktoren, die diese Forderung begründen, nicht auch der Aspekt gehören, dass der Aufgeforderte die konkrete Person des Aufgeforderten ist. Begründetwerden kann sie nur durch allgemeine Faktoren (der Handlung, des Akteurs, des Handlungskontexts), die bei dem Aufgeforderten gegeben sind, die aber im Prinzip auch bei anderen Personen gegeben sein können. (S. 33 f)