Exzerpte aus: Kettner, M. (2021): Die künstliche und die natürliche Intelligenz der Gesellschaft. In: Held, Benjamin/ van Oorschot, Frederike (Hrsg.): Digitalisierung: Neue Technik - neue Ethik? Heidelberg: HEIbook (FEST Forschung, Band 1) S.181-209


Digitalisierung

Ziehen wir zudem in Betracht, dass die Ausbreitung von Digitaltechnologie in Form weltweiter Vernetzung nach Art von Globalisierungsprozessen (Kettner 2012) erfolgt, dann können
wir Digitalisierung medientechnisch begreifen als das kollektiv betriebene Projekt der tendenziell weltweiten Vernetzung der rechnertauglich formatierten » Informationssphäre «, das heißt der Gesamtheit aller für die Lebenswelt der Menschen bedeutsamen Kommunikations- und Informationsmedien.

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Wenn wir Digitalisierung kategorial als einen Kulturprozess begreifen wollen, umfasst ihr Begriff Wandel und Veränderungen in unterschiedlichsten soziokulturellen Praktiken (z. B. des Lesens, Schreibens, Lernens), die sich schleichend einstellen oder durch gezielte Transformation zur kulturellen Normalität gemacht werden (z. B. die Umstellung informeller Kommunikation auf Soziale Medien).

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Das ursprüngliche und nicht ersetzbare Kommunikationsmedium des Sinns sind unsere Umgangssprachen, gleichviel wie sehr Sinn zudem durch andere Medien, z. B. durch Kommunikationstechnik funktionierende Medien vermittelt sein mag. Informationsverarbeitende technische Systeme hingegen arbeiten unmittelbar mit Information in je passenden Datenformaten.

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Mittels der Differenz von Sinn und Information lässt der kulturreflexive Digitalisierungsbegriff sich auf eine schmale und vorläufige Formel bringen: Digitalisierung ist ein kulturgeschichtlich neues technisches Agens im Kulturprozess, das auf dem Wege der tendenziell weltweiten Vernetzung der rechnertauglich formatierten » Informationssphäre « tendenziell die ganze Breite unserer sinnvollen Praktiken, unsere » Sinnsphäre «, berührt und verändert.

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KI ist nicht nur die informationstechnische Schubladenbezeichnung für technische Systeme zur Verknüpfung von großen, über beliebig diverse Peripheriegeräte (z. B. Sensors) oder sonst wie (z. B. Platforms) eingeholte, maschinenlesbar gemachten (Data Mining) Datenmengen und -strukturen (Big Data) mit maschinellen Lernprozesse in einfachen (Supervised Learning) und komplexen Formen ... KI ist vielmehr auch das Banner einer neuen technokulturellen Reformbewegung mit Mission: als Business von Big Tech und als Weltverbesserung durch technischen Fortschritt. 


Diese Bewegung hat, im Sinne der Ethik, ganz zweifellos ein Ethos bzw., wie ich sagen würde, eine » Ethosrationalität «. So bezeichne ich normative Deutungsmuster, in denen maßgebende Überzeugungen des unrechtvermeidenden Sichverhaltens (d. h. Moral im engeren Sinne), maßgebende Überzeugungen des vernünftigen Sichverhaltens (d. h. Rationalitätsstandards) sowie hochgehaltene Ideale der Lebensführung (d. h. Konzeptionen des » Guten Lebens « sowie » Tugenden « [d. h. Vortreff‌lichkeiten]) eine kohärente Gestalt bilden, die mit signifikanter handlungsorientierender normativer Kraft in Erscheinung tritt.

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Wenn wir das Moralische als die vereinheitlichende Kategorie verstehen, unter der wir die Vermeidbarkeit vermeidbaren Unrechts bedenken, können wir das Ethische als die umfassendere Kategorie verstehen, unter der wir bedenken, was wir aus dem Verhältnis, wie wir tatsächlich leben und wie wir leben wollen, und aus den vielfältigen Spannungen und Konflikten in diesem Verhältnis vernünftigerweise machen sollten. So gesehen stellt die Erforschung der Ethosrationalität der KI -Bewegung ein aktuelles Untersuchungsgebiet von höchstem Interesse für die philosophische Ethik dar. Zu Fragen wäre: Wie verändern sich Ethosrationalitäten in bestimmten Praxisbereichen, wenn Praktiken im Namen von Fortschritt, Digitalisierung und künstlicher Intelligenz verändert bzw. modernisiert werden – und wie sollten wir solche Veränderungen bewerten ?

Intelligenzdiskurse

Philosophie

Seit der kulturellen Übersetzung des antiken griechischen nous- und logos-Denkens in die römisch-lateinische philosophische Begriff‌lichkeit von intellectus und ratio hat sich im Diskurs der Philosophie allmählich die Idee eines höheren seelisch-geistigen Vermögens verdichtet, das als Intellect – von › intelligere ‹ im Sinne von: begreifend, einsehend, verstehend unter Verschiedenem auswählen – seine treffende Bezeichnung gefunden hat.

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Eine aktuelle philosophische Arbeitsdefinition von Intelligenz wird sich vor der Reduktion von Kognition auf Logik (Konsistenz), Sinneserfahrung (Perzeption) und Tatsachenerkenntnis (Wahrheit) hüten, stattdessen auf die in unserer Selbst- und Welterfahrung führenden Größen der Urteilskraft, der Relevanz und der Kohärenz abheben, und könnte daher so lauten: Menschliche Intelligenz ist das Vermögen, situations- und personübergreifend einzusehen, wie Zusammenhängendes bedeutsam zusammenhängt und
Nichtzusammenhängendes nicht.
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In philosophischer Kurzschrift wäre unsere Intelligenz zu beschreiben als unser umsichtiges und – weil die Mitmenschen in der virtuell unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft mitzählen – mitsichtiges Einsichtsvermögen. Intelligenz, kurz gesagt, manifestiert sich zwar als monadische Fähigkeits-Eigenschaft an den Einzelnen als natürlichen Personen, wird aber durch Lebensteilung konstituiert, das heißt im Ganzen kommunikativ interagierender Menschen. Verkürzt gesagt: Unsere natürliche Intelligenz ist immer schon die Intelligenz der Gesellschaft.


Psychologie

In Metaanalysen zeigt sich » die Intelligenz als jenes Persönlichkeitsmerkmal eines Menschen, mit dem sich berufliche Leistung über viele Berufsfelder hinweg am besten prognostizieren lässt, denn mit zunehmender Intelligenz können sich Menschen schneller auf neue Sachverhalte einstellen, komplexe Probleme richtig erfassen und rational durchdenken «. Alle handelsüblichen Intelligenztests sind daher Leistungstests. Was sie testen sollten, ist eine » individuelle Leistungsdisposition auf dem Gebiete des Verstandeslebens «, modern gesprochen, eine » kognitive « Begabung.

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Alle in der Humanpsychologie entwickelten Intelligenzbegriffe lassen sich also auf eine sparsame Pointe bringen: Sie konzeptualisieren die menschentypische (!) Begabung, zweckvoll zu handeln, vernünftig zu denken und sich mit seiner Umgebung wirkungsvoll auseinanderzusetzen. Wohlgemerkt, mit unserer Umgebung: Im Diskurs der Psychologie steht Intelligenz stets in Relation zu einer bestimmten Ökologie des Verhaltens, nämlich der für Individuen der Gattung Mensch ... selbstverständlichen Mitwelt und Umwelt.

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Die natürliche Intelligenz, die wir im Zusammenleben in Gesellschaft so naturgemäß entwickeln wie unsere Umgangssprache, ist situationsübergreifend, also allgemein, ist aber gleichwohl immer von Haus aus eingelassen in die Problemlagen von konkreten kulturellen Lebenswelten, die man nicht über einen Kamm scheren darf. Dieser Befund ist von äußerster Wichtigkeit im Hinblick auf die sogenannte künstliche Intelligenz (KI).

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Die Intelligenz gerade von hochintelligenten Personen kommt selten allein: Vielmehr hängt sie mit einer Reihe weiterer Persönlichkeitsmerkmale zusammen, vor allem mit Neugier und Wagemut, Ehrgeiz, Konzentrationsfähigkeit, Zweifelsbereitschaft, Witz, Einfallsreichtum, Kreativität und Nonkonformismus.

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... dass eine befriedigende Theorie der natürlichen Intelligenz nur im Rahmen einer allgemeinen Theorie der Persönlichkeit zu erhoffen ist, die die Entwicklung von Fähigkeiten für die Bewährung am Reichtum von Problemen festmacht, die sich im Kontext einer besonderen Kultur den hier kulturierten Personen immerzu neu stellen. Soziotechnische Systeme, ob KI -basiert oder nicht, haben aber weder Persönlichkeit noch Kultur. Daher wird die Intelligenz, die sie entwickeln können – wenn wir von dieser per analogiam wie von der der Tiere sprechen wollen –, auf uns sehr fremdartig wirken. In gewissem Sinne könnten wir uns komplexe intelligente Maschinen wie geistlose, fremdartige, mächtige Tiere vorstellen.

Maschinenintelligenz

Auf dem Umweg über die Person- und die Tierintelligenz sind wir zur Übertragung der Intelligenzvorstellung auf Artefakte gekommen. Das Gründungsdokument der KI -Bewegung im Jahr 1955 beschreibt KI als » making a machine behave in ways that would be called intelligent if a human were so behaving «. Ein einschlägiger heutiger Bestimmungsversuch stammt von dem Informatiker Nils John Nilsson. Er definiert KI als die » activity devoted to making machines intelligent, and intelligence is that quality that enables an entity to function appropriately and with foresight in its environment «.

Ein aktuelles Handbuch charakterisiert KI als ein Forschungsprogramm mit dem Ziel, » menschliche Wahrnehmungs- und Verstandesleistung zu operationalisieren und durch Artefakte, kunstvoll gestaltete technische – insbesondere informationsverarbeitende – Systeme verfügbar zu machen «.


KI ist also eine heterogene wissenschaftliche Disziplin, die ihre Einheit an ihrem Ziel hat: Es geht im KI -Paradigma darum, intelligente Akteure mit technischen Mitteln zu bauen, oder zumindest einiges von dem, was intelligente Akteure zu intelligenten Akteuren macht, mit technischen Mitteln nachzubauen. Mit Digitalisierung verbunden ist das KI-Paradigma, wie eingangs beschrieben, nur dadurch, dass mit der Digitaltechnologie die erste Technologie verfügbar geworden ist, die so leistungsfähig ist, dass sie zur ersten Großbaustelle der KI hat werden können.


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