Wir sitzen heute an einem virtuellen Küchentisch und spielen ein altes Kinderspiel, das surrealistische Künstler wie André Breton oder Yves Tanguy fasziniert hat. In diesem Spiel gibt es einen unsichtbaren Mitspieler. Er heißt Zufall. Und er bestimmt das Spiel auf seine Weise. Das Spiel geht so: Auf einem Blatt Papier wird begonnen, eine Figur zu zeichnen, ohne dass die anderen Mitspieler*innen es sehen können. Wenn der Hut, die Haarpracht, ein exotischer Kopfschmuck – oder was auch immer die Figur oben bestimmt – fertig ist, wird das Papier gefaltet und weitergereicht. Damit die Figur nicht zerfällt, bleiben die Enden der gezogenen Linien unter dem Falz sichtbar. Der nächste Mitspieler zeichnet weiter – vielleicht ein Gesicht, vielleicht ein Teil eines Tierschädels, und verdeckt seinen Beitrag durch ein nächstes Falten. Ein Zu-Falten. Das Zu-Falten lässt den Zufall nach jedem Teilstück an die Reihe kommen. Langsam entstehen Skulpturen, deren Gestalt nicht vorhersehbar, nicht planbar und am Ende für alle überraschend ist.


Surrealistisch ist dieses Vorgehen auch auf Wortgebilde ausgedehnt worden. Es werden statt gezeichneten Figuren Satzfiguren aus Worten gebildet, die erst am Schluss für alle lesbar werden. Daher hat das Spiel seinen Namen: Cadavre exquis ist der Beginn des auf diese Weise zufällig entstandenen Satzes „Le cadavre-exquis-boira-le-vin-nouveau“. Übersetzt heißt er: „Der köstliche-Leichnam-wird-den-neuen-Wein-trinken“.

Die heutige Sendung an unserem virtuellen Küchentisch ist so entstanden: Elisabeth Schäfer, Herbert Hrachovec, Charlotte Annerl, Andrea Adelsburg und Ulrike Kadi gestalten mit Worten einen Cadavre exquis. Die Figur, die wir damit auch dem Zufall überlassen, heißt Normalität.

  • No labels