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Normalität

1. Der Terminus 'normal' als doppelte Verneinung

Wittgenstein warnt davor, die Bedeutung von Worten dadurch erforschen zu wollen, dass man nur auf einfache Subjekts-Prädikat-Sätze blickt, in denen sie vorkommen. Er empfiehlt stattdessen, auf "die Anlässe zu schauen, aus denen sie gebraucht werden". Denn es sei eine Eigenheit von Sprache, "ein Bestandteil einer großen Gruppe von Tätigkeiten" zu sein: "des Redens, Schreibens, Busfahrens, der Begrüßung, wenn man jemanden trifft, usw."

In Bezug auf das Wort schön kommt Wittgenstein zu dem Schluss, dass es erstaunlicherweise in vielen ästhetische Urteile nur höchst selten oder gar nicht gebraucht wird. Dass es also nicht die Rolle spielt, die zu vermuten wäre, wenn nur auf das Wort schön in einfachen Sätzen wie "Die Blume ist schön" geachtet wird.
Gilt Ähnliches auch in Bezug auf das Wort normal? Tatsächlich ist seine Verwendung weitaus weniger häufig, als dies angesichts seines doch enormen Gegenstandsbereiches zu erwarten wäre. In den alltäglichen "Sprachspielen" kommt das Wort normal nur selten vor. Der Grund liegt darin, dass sein Gebrauch auf Situationen beschränkt ist, in denen mit seiner Hilfe ein Unterschied hervorgehoben wird.
Wenn zum Beispiel eine Lehrbeauftragte sagte: "Meine Vorlesung beginnt. Es ist normal, dass ich in den Hörsaal gehe", würde diese Aussage für Verwirrung sorgen. Es fehlt ein Kontrast, von dem der Begriff normal abgehoben wird. Stattdessen würde wohl der Satz lauten: Meine Vorlesung beginnt. Ich gehe jetzt in den Hörsaal.
Wenn hingegen jemand feststellte: "Mir würde es schwerfallen, Studierende zu beurteilen", dann könnte die Antwort durchaus sinnvolle lauten: "Für mich ist es normal, Arbeiten zu benoten."
Das Wort "normal" ist kein Begriff der Alltagssprache, auch in literarisch-poetischen Texten ist es kaum anzutreffen. Es dient nur dazu, um eine Abgrenzung, eine Unterscheidung vorzunehmen. Das Wort normal wird also nicht allein für sich stehend, sondern in Kontrastierung zu einem Gegenbegriff verwendet, etwa zu außergewöhnlich, bedenklich oder selten.
Der Terminus normal stellt so gesehen eine Art doppelte Verneinung dar, die besagt: etwas ist nicht nichtnormal: In den meisten anderen Fällen tritt er in den Hintergrund, unbedacht wie die Gesundheit, wenn die Krankheit fern und dem Bewusstsein entzogen ist.
Sein Einsatzbereich liegt also dort, wo es um Verläufe, Klassifikationen, Verteilungen von Merkmalen, graduelle Ausprägungen oder Entwicklungen geht.
2. 'normal' im Nahbereich des Körpers
Schon früh spielte die Kategorie normal in der Medizin, einer der frühesten Wissenschaften, eine entscheidende Rolle, ebenso in der Wetter- und Himmelsbeobachtung. Denn an die zyklischen Verläufe des Körpers, der Generationenfolge, der Himmelskörper oder der Jahreszeiten gekoppelt entwickelten sich in der Evolution menschliche Handlungsweisen.
Die Etikettierung normal beschwichtigt bei Unsicherheiten über Auffälligkeiten und antwortet auf Fragen wie: Ist etwas nicht in Ordnung, soll man dem nachgehen, etwas unternehmen, sich Sorgen machen?
Freilich lässt sich die Trennlinie zwischen evolutiv entstandenen körperlichen Zuständen und kulturellen und individuellen Mustern nicht klar erkennen. In den körpernahen Bereichen menschlicher Lebensweisen ist die Grenzziehung zum Normalen von jeher mit starken Gefühlen besetzt und umstritten. Dazu gehörten etwa die Sexualität und die so genannten 'Geistes- und Nervenkrankheiten'.
Zunächst durch religiöse und traditionale Verbote und Tabus geregelt, beanspruchten im Laufe der Neuzeit zunehmend die Wissenschaften diese Bereiche als ihren Forschungsgegenstand, allen voran die Medizin bzw. die Psychiatrie. Zugleich setzte eine systematische Ausweitung der staatlichen Verwaltung ein, die ihre Wirksamkeit auf juristische Gesetze stützte, die medizinische Klassifikationen aufgriffen und umsetzten.
Einige einst rigoros vom 'Normalen' abgetrennten Phänomene haben mittlerweile in vielen europäischen Ländern und in den USA eine gewisse Akzeptanz erfahren: Ein Beispiel ist die Homosexualität, die geradezu eine umfassende Normalisierung im Sinne einer Eingliederung ins bürgerliche Leben erfährt, mit Heirat, Elternschaft und stabilem Paarleben.
Auch die Inanspruchnahme von Psychotherapie ist zu einer vertrauten und anerkannten sozialen Praxis geworden. Geisteskrankheit hat nicht mehr die Gestalt jener Formen "weiblicher Hysterie", die um 1900 in der Pariser Klinik Salpêtrière jeden Dienstag Gäste und Ärzte verstörte und zugleich faszinierte.
Beunruhigte Fragen nach Normalität blieben dennoch bestehen: Sie richten sich – neben den Themen Gesundheit, Sexualität und psychischer Gesundheit – auch auf die Bedeutung von Geschlechteridentitäten sowie auf die Entwicklung von Kindern und eine darauf bedacht nehmende Erziehung. Nicht Ausschluss, sondern Orientierungshilfe ist der Wunsch der erbetenen Beratung:
Ist es normal, dass mein Kind Essen an die Wand wirft, nicht spricht, keine Freunde hat?
Ist es normal, nur sechs Stunden zu schlafen?
Welche Blutwerte erfordern eine medizinische Kontrolle?
Beantwortungen dieser Fragen mögen sich auf in Familien überlieferte Erfahrungen berufen oder auf den Austausch mit Freunden, auf die rasant wachsende Ratgeberliteratur oder auf Internet-Foren.
Zumeist werden jedoch die Wissenschaften mit ihren Klassifikationen, Theorien, systematischen Studien und Experimenten um Expertisen gebeten. Normalität soll nicht durch traditionelle Normen, sondern durch Wissen fundiert werden.
Orientierung bieten aber auch die Moral oder esoterische Pseudowissenschaften, die zunehmend in Psychotherapien und in die Alternativmedizin Einzug halten und eine neue, postreligiöse Spiritualität versprechen.
Immerhin, Kontroversen bleiben bestehen: Ein aktuelles Beispiel wären vereinzelte feministische Forderungen nach einer Neubewertung von Pornographie und selbst Prostitution, sobald diese in Eigenregie, also ohne fremde Kontrolle, angeboten und ausgeübt werden.
3. Die statistische Normalverteilung
Gibt es auch eine neutrale Bewertung von Normalität? Am ehesten scheint dies in der Statistik der Fall zu sein: In diesem Kontext wird etwa von einer Normalverteilung von Merkmalen gesprochen. Doch ist die Statistik nur ein Hilfsmittel, um Häufigkeiten, Überschneidungen oder Abweichungen darzustellen. Erst die Interpretation der Ergebnisse führt dann von den Auftraggebern der Studien zu jeweils unterschiedlichen Bewertungen.
So könnte die Aussage der meteorologischen Warte in Wien, dass diesen Sommer die Temperaturen über dem Normalwert lagen, ein erfreulicher Zufall sein oder ein alarmierendes Zeichen für den Klimawandel.
4. Normalität als Angst- und Zerrbild
Je weiter sich der Anwendungsbereich des Terminus normal von medizinisch-körperlichen Bereichen entfernt und sich stattdessen auf kulturelle Praktiken bezieht, desto negativer wird er bewertet. Besonders deutlich kommt dies bei dem abstrakten Begriff Normalität zum Ausdruck, der eine andere Verwendung hat als das Eigenschaftswort 'normal'. Der Gebrauch des Wortes Normalität beschränkt sich nicht auf eine situationsabhängige Abgrenzung von bestimmten Gegenbegriffen. Vielmehr beansprucht er, eine über allen unspektakulären Alltagshandlungen lastende Grundtönung zu benennen, ein einheitliches, farbloses Gefühl, das einen Gutteil menschlicher Lebensgestaltungen prägt. Mit dieser Vorstellung sind charakteristische Szenen oder Bilder verbunden, wie sie auch Rahel Jaeggi in ihrem Buch Entfremdung wählt:
"Ein junger Wissenschaftler tritt seine erste Stelle an. Gleichzeitig beschließen seine Freundin und er, zu heiraten. [...] Kurze Zeit später erwartet seine Frau ein Kind. Da größere Wohnungen in der Stadt knapp und teuer sind, entscheiden sich die beiden dazu, in einen Vorort zu ziehen. Schließlich sei das Leben auf dem Land auch 'besser für das Kind'. Der Mann, ein begabter Mathematiker, der bis dahin ein leicht chaotisches Leben zwischen exzessivem Nachleben und vesessener Arbeit geführt hat, ist nun mit einer für ihn vollkommen neuen Situation konfrontiert. Sein Leben ist ganz plötzlich und ohne dass er es wirklich bemerkt hätte, in das gekommen, was man 'geordnete Bahnen' nennt. Eins folgt dabei scheinbar zwangsläufig auf das andere. Und in einem schleichenden Prozess, fast unmerklich, gewinnt sein Leben sämtliche Attribute einer ganz normalen Vorortexistenz."
Eine ähnliche Situation behandelt der Film: Zeiten des Aufruhrs mit Kate Winslet und Leonardo di Caprio, wie der Ankündigungstext erläutert:
"Mitte der 1950er Jahre lebt das junge Ehepaar Frank und April Wheeler mit seinen beiden Kindern in einem hübschen Haus in einem gediegenen Vorort von Connecticut. Doch die Idylle trügt: Frank ist unglücklich in seinem Bürojob, April ist frustriert, weil sie ihren Traum einer Schauspielerkarriere zugunsten eines Daseins als Hausfrau und Mutter aufgeben musste. Bevor sie völlig im Kleinbürgertum versinken, planen die beiden einen Neuanfang in Paris. Doch dann wird April erneut schwanger."
Aber das so zu einer vagen Universalie erhobene Abstraktum Normalität ist keine ernsthafte Grundkategorie für sozialwissenschaftliche Analysen. In Luhmanns umfangreichem Werk: Die Gesellschaft der Gesellschaft kommt sie nicht einmal vor. Der Terminus Normalität hat in dieser generalisierten Form also eher eine politisch-kulturelle, polemische Bedeutung.
5. Neue Normalität: Regionalität, Natürlichkeit
Die Bilder einengender Normalität können sich auch ändern. Kinder aufwachsen zu sehen, so heben Eltern mittlerweile gerne hervor, ermöglicht neue, wichtige Erfahrungen, die eine Gegenkraft zu ihrer beruflichen Lebensführung darstellen. Auch Gartengestaltung, Kochen oder Handwerk werden, unter der Bedingung von Natürlichkeit und Regionalität, als lebendige, bereichernde Aspekte des Alltags rehabilitiert.
6. Normalität und Normierung
Normierungen und Standardisierungen gewinnen im Zuge der Entwicklung technisch innovativer, arbeitsteiliger Tätigkeiten, deren Produkte weltweit ausgetauscht werden, zunehmend an Bedeutung.
Dies hat teils triviale Gründe: Die Vorteile einer Vereinheitlichung, etwa des Eisenbahnnetzes, der Flugraumüberwachung, von Steckern oder Ladegeräten, liegen auf der Hand.
Normen zielen oft nicht auf eine Fixierung, sondern auf eine Verbesserung bisher üblicher Produktionsweisen ab: Erste Standardisierungen mit eigenen Gütezeichen führte im 17. Jahrhundert der französische Finanzminister Colbert ein: Er gründete staatliche Manufakturen, die in Venedig, England oder den Niederlanden das beste handwerkliche Wissen sammelten und im ganzen Land weitergaben, um durch den Export von einheitlich hohe Standards aufweisenden Luxusgütern die Schulden des Landes abzubauen.
Auch die Ö-Normen bemühen sich, in Zeiten eines nicht mehr auf Luxus abzielenden Massenproduktion die technischen Qualitäten und Sicherheitsstandards zu heben.
Normierungen erlauben zudem Vergleichbarkeit und Rankings, fördern das Ideal einer alle Angebote einbeziehenden rationalen Wahl.
Das Ineinandergreifen von Normierungen und Regulierungen auf der einen Seite sowie einer alle "naturwüchsigen" Selbstverständlichkeiten und Schranken aufhebenden Warenproduktion auf der anderen Seite lässt ein widersprüchliches Bild moderner Gesellschaften entstehen. Tatsächlich sind Normen sehr oft ein konstruierter Ersatz für aufgelöste "lokale" oder "ständische Borniertheiten", wie dies Marx etwa im Kommunistischen Manifest drastisch beschreibt.
Die Unausweichlichkeit von Normen und Standards als Regulierung einer von allen Vorgaben freigesetzten industriellen Produktivität zeigt auch der Umstand, dass nicht wenige Züge des Bildes einer einengenden Normalität den Kämpfen von 200 Jahren Arbeiterbewegung und Sozialdemokratie entstammen: Achtstundentag, Kollektivlohn, allgemeine Schulpflicht, Urlaubsanspruch, gesicherte Pension, Kündigungsschutz...

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