Grundsätzlich ermöglicht Storyteller eine spielerische Auseinandersetzung mit ethischen und moralischen Entscheidungen. Besonders Themen wie Betrug, Vergebung oder Tod regen das moralische und ethische Urteilsvermögen der Spielenden an. Die moralischen Entscheidungen können dabei nicht von den Spielenden selbst getroffen werden, die letzte Entscheidungsmacht obliegt dem Spiel, da der narrative Ausgang durch den Titel bereits festgelegt ist. Als Konsequenz abweichender Entscheidungen bzw. Handlungsverläufe findet kein Spielfortschritt statt. Auch wenn die Spielenden nach dem Lesen der Überschrift womöglich ein anderes Szenario im Kopf hatten, kann die vom Spiel geforderte Narration dazu führen, dass Stereotypisierungen oder Gedankenmuster aufgelöst werden und innovative Denkanstöße gegeben werden. Als Öffnung bestehender Stereotypisierungen kann die Szene genannt werden, in der eine gleichgeschlechtliche Liebe zum erfolgreichen Abschließen des Szenarios führt. Fehlentscheidungen werden augenblicklich gekennzeichnet, es werden beliebig viele Versuche gestattet. So lernen die Spieler:innen, Konsequenzen abzuwägen und ethische Urteile zu fällen.
Fachdidaktische Analyse
Das digitale Puzzlegame Storyteller bietet ein vielschichtiges Potenzial für die integrative Förderung literarischer, sprachlicher und medialer Kompetenzen im Deutschunterricht. Insbesondere im Kontext von Deutsch als Zweitsprache (DaZ) ermöglicht das Spiel motivierende und differenzierbare Lernzugänge, da es multimodale Narrative mit spielerischer Handlungskonstruktion verbindet (Corvacho del Toro, 2022). Storyteller greift zentrale narrative Muster der Literaturtradition auf, beispielsweise Figuren wie König, Vampir oder Baronin sowie Erzählschemata wie Verrat, Heirat oder Rache. Diese Archetypen werden nicht explizit erklärt, sondern als spielerisches Deutungsangebot implizit präsentiert. Dadurch wird literarisches Lernen in Bezug auf Gattungskompetenz, Figurenverständnis und Themenrepertoire aktiviert (vgl. Boelmann & König, 2023).
Wie Boelmann und König (2023) betonen, besteht literarische Kompetenz auch darin, narrative Strukturen zu erkennen, zu interpretieren und produktiv zu variieren. Genau das verlangt Storyteller: Die Lernenden müssen konventionalisierte Rollen (z. B. Heldin, Täter, Opfer) erkennen und neu kombinieren – oft mit überraschenden Wendungen. Dies fördert ästhetisches Verstehen und die Fähigkeit, alternative Erzählvarianten zu entwerfen. Die Struktur des Spiels mit comicartigen Panels, klarer Bildsprache und dialogfreien Szenen erlaubt dabei eine Annäherung an komplexe Erzählformen, ohne auf textlastige Vorlagen angewiesen zu sein. So wird besonders für DaZ-Lernende ein Zugang zu literarischen Mustern geschaffen, der nicht auf Lesekompetenz im engeren Sinne basiert, sondern auf narrativer Bildkompetenz (Gundermann, 2017). Das Spiel bietet vielfältige Anlässe für produktive Sprachhandlungen. Die Lernenden können beispielsweise Geschichten nacherzählen, Panels beschreiben, alternative Enden schreiben oder Dialoge erfinden. Dies unterstützt sowohl den Aufbau narrativer Strukturen als auch den gezielten Einsatz von temporalen Konnektoren, Verbstellung und Nebensätzen, was zentrale sprachliche Ziele im DaZ-Unterricht sind (Riegler, 2022). Die Trial-and-Error-Logik des Spiels regt zudem zur sprachlichen Reflexion über kausale Zusammenhänge und narrative Logik an, beispielsweise im Konjunktiv („Wenn der König die Baronin geheiratet hätte …“) oder in Bedingungssätzen (Boelmann & König, 2023).
Storyteller ist ein Paradebeispiel für multimodale Narration. Das Spiel kombiniert Bild, Raum, Interaktion und lineare Abfolgen zu einer sinnvollen Geschichte. Die Spieler:innen erzählen nicht nur, sondern sie bauen die Geschichte aktiv mit. Dadurch wird das narrative Verständnis nicht nur rezeptiv, sondern auch gestalterisch-performativ gefördert (Corvacho del Toro, 2022). Die Comic-Ästhetik des Spiels mit ihrer klaren Panelstruktur und dem bewussten Einsatz des „Gutters” (Zwischenraum zwischen Bildern) fordert von den Lernenden die Fähigkeit zur semantischen Bilddeutung und zur mentalen Auffüllung von Handlungslücken. Dies ist eine Kernkompetenz visueller Leseförderung (Gundermann, 2017). Dies lässt sich auch auf analoge Formate übertragen, etwa durch das Erstellen eigener Bildgeschichten oder das Vertonen von Spielsequenzen.
Das Verstehen von Geschichten ist ein anspruchsvoller Prozess, der sich in einigen Fällen durchaus schwierig gestalten kann. Die zeigt sich nicht zuletzt bei der Textsorte der Nacherzählung: Nicht selten treten Probleme durch reduzierte Wiedergabe der Geschichte auf, indem etwa nur einzelne Figuren oder besonders einprägsame Szenen erwähnt werden. Die detailreiche und korrekte Wiedergabe der Narration bleibt oft aus. Storyteller eignet sich nicht nur, um die Handlungsabfolge, sondern auch die Handlungsverknüpfung von Geschichten erkennen zu lernen. Die Spielenden werden zu einem narrativen Ko-Konstrukteur der Geschichte und können mit der Handlungslogik der Geschichten experimentieren. Das Spiel ist darauf ausgelegt, dass die Anordnung der Figuren in den Panels eine inhaltliche Kohärenz aufweisen muss. Eine fehlende Handlungslogik, die von Seiten der Spieler erzeugt wird, resultiert in fehlendem Spielfortschritt. Durch entsprechende Erfolge oder Misserfolge im Spiel erkennen die Lernenden die Wichtigkeit und den Wert einer schlüssigen Handlungslogik, was sich positiv auf ihre eigenen narratologischen Kenntnisse auswirkt.
Auch die Analysefähigkeiten und das Textverständnis der Lernenden können mithilfe von Storyteller gefördert werden, da sie eigenständig die Strukturen einer Narration aufbrechen und selbstständig in eine logische Reihenfolge bringen. Das Zusammenspiel von Konflikten, Handlungsabläufen und Charakteren wird spielerisch erkundet. Das Spiel kann außerdem als Impuls für kreatives Schreiben und Erzählen dienen. Der experimentelle Umgang mit Geschichten regt die Lernenden dazu an, in eigenen Geschichten ihr kreatives Potential zu entfalten und Handlungsstränge explorativ zu erkunden. Folgende Kompetenzbereiche werden abgedeckt:
- Lesen und Schreiben: Förderung vom Verfassen und Gestalten eigener Erzählungen
- Sprechen und Zuhören: etwaige Diskussionen der entstandenen Geschichten und der Bedeutung abweichender Handlungslogiken
- Medienkompetenz: Als digitales Spiel eignet sich Storyteller zur Analyse anhand typischer Merkmale dieser Mediengattung
Storyteller kann dabei als fruchtbarer Anknüpfungspunkt für unterschiedlichste Unterrichtsideen fungieren: Beispielsweise lassen sich die im Spiel entwickelten Erzählungen in einer vergleichenden Analyse klassischen Texten und Erzählstrukturen gegenüberstellen, um narratologische Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten und bestehendes Wissen zu narratologischen Strukturen zu vertiefen. Ebenso können thematisch ansprechende Spiellevel als Rollenspiel oder Theaterstück adaptiert werden. Dabei schlüpfen die SchülerInnen selbst in die Rolle der Figuren, entwickeln Dialoge auf Basis der nonverbalen Erzählung im Spiel und führen ihre unterschiedlichen Versionen in Kleingruppen voreinander auf. Auf diese Weise lernen sie, eine Erzählung von einem Medium in ein anderes zu Übersetzen, und die Perspektiven verschiedener Figuren einzunehmen.
Didaktisierungen