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Aus: Martin Heidegger: Brief über den Humanismus. In GA 1, Band 9 Wegmarken 314 (146)
Die Befreiung der Sprache aus der Grammatik in ein ursprünglicheres Wesensgefüge ist dem Denken und Dichten aufbehalten. Das Denken ist nicht nur l'engagement dans l'action für und durch das Seiende im Sinne des Wirklichen der gegenwärtigen Situation. Das Denken ist l'engagement durch und für die Wahrheit des Seins. Dessen Geschichte ist nie vergangen, sie steht immer bevor. Die Geschichte des Seins trägt und bestimmt jede condition et situation humaine. Damit wir erst lernen, das genannte Wesen des Denkens rein zu erfahren und das heißt zugleich zu vollziehen, müssen wir uns frei machen von der technischen Interpretation des Denkens. Deren Anfänge reichen bis zu Plato und Aristoteles zurück. Das Denken selbst gilt dort als eine τέχνη, das Verfahren des Überlegens im Dienste des Tuns und Machens. Das Überlegen aber wird hier schon aus dem Hinblick auf πραξις und ποίησις gesehen. Deshalb ist das Denken, wenn es für sich genommen wird, nicht »praktisch«. Die Kennzeichnung des Denkens als ΰεωρία und die Bestimmung des Erkennens als des »theoretischen« Verhaltens geschieht schon innerhalb der »technischen« Auslegung des Denkens.
Exzerpt aus: Peter Sloterdijk: Regeln über den Menschenpark. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1999
GAST: Und die der Gewalttätigen [E] nennen wir die tyrannische, die freiwillige Herdenwartung
aber über freiwillige zweibeinige lebendige Wesen als Staatskunst bezeichnend, wollen wir nun
den, der diese Kunst und Besorgung ausübt, als den wahrhaften und wirklichen König und
Staatsmann aufstellen. (Platon, Politikos (276e))
Es gehört zur Signatur der Humanitas, daß Menschen vor Probleme gestellt werden, die für Menschen zu schwer sind, ohne daß sie sich vornehmen könnten, sie ihrer Schwere wegen unangefaßt zu lassen. Diese Provokation des Menschenwesens durch das Unumgängliche, das zugleich das Nichtbewältigbare ist, hat schon am Anfang der europäischen Philosophie eine unvergeßliche Spur hinterlassen - ja vielleicht ist die Philosophie selbst diese Spur im weitesten Sinn. Nach dem Gesagten ist es nicht mehr allzu überraschend, daß diese Spur im besonderen sich als ein Diskurs über Menschenhütung und Menschenzucht erweist. Plato hat in seinem Dialog Politikos - man übersetzt gern: Der Staatsmann - die Magna Charta einer europäischen Pastoralpolitologie vorgelegt. Diese Schrift ist nicht nur von Bedeutung, weil sich in ihr klarer als irgendwo sonst zeigt, was die Antike wirklich unter Denken verstanden hat - die Gewinnung der Wahrheit durch sorgfältige Einteilung oder Zerschneidung von Begriffs- und Sachmengen; ihre inkommensurable Stellung in der Geschichte des Denkens über den Menschen liegt vor allem darin, daß sie gleichsam wie ein Arbeitsgespräch unter Züchtern geführt wird - nicht zufällig unter Teilnahme eines für Plato untypischen Personals - eines Fremden und eines jüngeren Sokrates, als dürften gewöhnliche Athener zu Gesprächen dieser Art fürs erste nicht zugelassen werden - wie denn auch, wenn es darum geht, einen Staatsmann zu selegieren, wie er in Athen nicht vorkommt, und ein Staatsvolk zu züchten, wie es noch in keiner empirischen Stadt zu finden war.
Dieser Fremde also und sein Gegenüber, Sokrates junior, widmen sich dem verfänglichen Versuch, die künftige Politik oder Stadt-Hirtenkunst unter durchsichtige rationale Regeln zu stellen. Mit diesem Projekt bezeugt Plato eine intellektuelle Unruhe im Menschenpark, die nie mehr ganz beschwichtigt werden konnte. Seit dem Politikos und seit der Politeia sind Reden in der Welt, die von der Menschengemeinschaft sprechen wie von einem zoologischen Park, der zugleich ein Themen-Park ist; die Menschenhaltung in Parks oder Städten erscheint von jetzt an als eine zoo-politische Aufgabe. Was sich als Nachdenken über Politik präsentiert, ist in Wahrheit eine Grundlagenreflexion über Regeln für den Betrieb von Menschenparks. Wenn es eine Würde des Menschen gibt, die es verdient, in philosophischer Besinnung zur Sprache gebracht zu werden, dann vor allem deswegen,
weil Menschen in den politischen Themenparks nicht nur gehalten werden, sondern sich selbst darin halten. Menschen sind selbsthegende, selbsthütende Wesen, die - wo auch Regeln über den Menschenpark immer sie leben - einen Parkraum um sich erzeugen. In Stadtparks, Nationalparks, Kantonalparks, Ökoparks - überall müssen Menschen sich eine Meinung darüber bilden,wie ihre Selbsthaltung zu regeln sei.
Was nun den platonischen Zoo und seine Neu-Einrichtung anbelangt, so geht es bei ihm um alles in der Welt darum, zu erfahren, ob zwischen der Population und der Direktion eine nur graduelle oder eine spezifische Differenz besteht. Unter der ersten Annahme wäre nämlich der Abstand zwischen den Menschenhütern und ihren Schützlingen nur ein zufälliger und pragmatischer - man könnte in diesem Fall der Herde die Fähigkeit zusprechen, ihre Hirten turnusmäßig neu zu wählen. Herrscht aber zwischen Zooleitern und Zoobewohnern eine spezifische Differenz, dann wären sie voneinander so grundsätzlich unterschieden, daß eine Wahldirektion nicht ratsam wäre, sondern nur eine Direktion aus Einsicht. Allein die falschen Zoodirektoren, die Pseudostaatsmänner und politischen Sophisten würden dann für sich werben mit dem Argument, sie seien doch von gleicher Art wie die Herde, während der wahre Züchter auf Differenz setzte und diskret zu verstehen gäbe, daß er, weil er aus Einsicht handelt, den Göttern näher steht als den konfusen Lebewesen, die er betreut.
Platos gefährlicher Sinn für gefährliche Themen trifft den blinden Fleck aller hochkulturellen Pädagogiken und Politiken - die aktuelle Ungleichheit der Menschen vor dem Wissen, das Macht gibt. Unter der logischen Form einer grotesken Definitionsübung entwickelt der Dialog vom Politiker die Präambeln einer politischen Anthropotechnik; in dieser geht es nicht nur um die zähmende Lenkung der von sich aus schon zahmen Herden, sondern um eine systematische Neu-Züchtung von urbildnäheren Menschenexemplaren.
Die Übung beginnt so komisch, daß noch das nicht ganz so komische Ende leicht im Gelächter untergehen könnte. Was ist grotesker als die Definition der Staatkunst als einer Disziplin, die es zu tun hat mit den Fußgehern unter den in Herden lebenden Wesen? - denn Menschenführer üben weiß Gott nicht Schwimmtierzucht, sondern Landgängerzucht. Unter den Landgängern muß man die geflügelten von den ungeflügelt zu Fuß gehenden abtrennen, wenn man auf den Menschenpopulationen hinauswill, denen es bekanntlich an Federn und Flügeln fehlt. Der Fremde in Platos Dialog fügt nun hinzu, daß eben dieses Fußvolk unter den Zahmen von Natur aus wiederum in zwei deutlich geteilte Teilmengen gegliedert sei - nämlich "daß einige ihrer Art nach ungehörnt sind, Andere hörnertragend." Das läßt sich ein gelehriger Gesprächspartner nicht zweimal sagen.
Den beiden Mengen entsprechen wieder zwei Arten von Hirtenkunst, nämlich Hirten für gehörnte Herden und Hirten für Nichtgehörnte - es dürfte auf der Hand liegen, daß man die wahren Führer der Menschengruppe nur findet, wenn man die Hirten fürs Gehörnte ausscheidet. Denn wollte man Hornviehhirten Menschen hüten lassen - was dürfte man anderes erwarten als Übergriffe durch die Ungeeigneten und Scheingeeigneten. Die guten Könige oder basileioi so sagt der Fremde, weiden mithin eine abgestutzte Herde ohne Hörner - (265d). Doch das ist nicht alles; sie haben es des weiteren mit der Aufgabe zu tun, unvermischt begattete Lebewesen zu hüten - das heißt Geschöpfe, die nicht außerspezifisch untereinander kopulieren wie etwa Pferde und Esel es zu tun pflegen - sie müssen also über die Endogamie wachen und Bastardisierungen zu verhindern suchen.
Wird zu diesen Ungeflügelten, Hornlosen, nur mit Ihresgleichen sich Paarenden zuletzt auch noch das Merkmal Zweifüßigkeit - moderner gesprochen - aufrechter Gang - hinzugefügt, so wäre die Hüte-Kunst, die sich auf ungeflügelte, ungehörnte, unvermischt begattete Bipeden bezieht, schon recht gut als die wahre Kunst ausgewählt und gegen alle Scheinzuständigkeiten abgesetzt. Diese vorsorgende Hütekunst muß nun ihrerseits noch einmal eingeteilt werden in gewaltsam-tyrannische oder in freiwillige. Wird die tyrannische Form wiederum als unwahre, trugbildhafte ausgeschieden, so bleibt die eigentliche Staatskunst zurück: Sie wird bestimmt als die "die freiwillige Herdenwartung ...über freiwillige lebendige Wesen".
https://homepage.univie.ac.at/henning.schluss/seminare/023bildung_und_genetik/texte/01sloterdijk.htm
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Herbert Hrachovec: Die Quarantäne einst und jetzt
Giorgio Agamben, aus den Blogeinträgen
Der andere Mensch, wer auch immer er sein mag, selbst ein geliebter Mensch, darf nicht angesprochen oder berührt werden, und wir müssen einen Abstand zwischen uns und ihm einhalten. Manche sagen einen Meter, aber die neuesten Ratschläge von so genannten Experten besagen, dass es 4,5 Meter sein sollten (interessant diese fünfzig Zentimeter!). Unser Nachbar wurde abgeschafft. Angesichts der ethischen Inkonsequenz unserer Machthaber ist es möglich, dass diese Bestimmungen von denjenigen, die sie erlassen haben, aus der gleichen Angst diktiert werden, die sie zu schüren beabsichtigen, aber es ist schwierig, nicht zu denken, dass die Situation, die sie schaffen, genau das ist, was diejenigen, die uns regieren, immer wieder versucht haben zu erreichen: dass Universitäten und Schulen ein für alle Mal geschlossen werden und der Unterricht nur noch online stattfindet, dass wir aufhören, uns aus politischen oder kulturellen Gründen zu treffen und zu reden und nur noch digitale Nachrichten austauschen, dass, wo immer möglich, Maschinen jeden Kontakt - jede Ansteckung - zwischen Menschen ersetzen.
https://www.quodlibet.it/giorgio-agamben-contagio
Ein weiterer Punkt, der zum Nachdenken anregt, ist der offensichtliche Zusammenbruch aller gemeinsamen Überzeugungen und Glaubensvorstellungen. Man könnte sagen, dass die Menschen an nichts mehr glauben - außer an die bloße biologische Existenz, die um jeden Preis gerettet werden muss. Aber nur die Tyrannei, nur der monströse Leviathan mit seinem gezückten Schwert, kann sich auf die Angst vor dem Verlust des eigenen Lebens gründen.
https://www.quodlibet.it/giorgio-agamben-riflessioni-sulla-peste
Ein Land, das beschließt, auf sein eigenes Gesicht zu verzichten und die Gesichter seiner Bürger überall mit Masken zu bedecken, ist also ein Land, das jede politische Dimension von sich gestrichen hat. In diesem leeren Raum, der jederzeit einer uneingeschränkten Kontrolle unterliegt, befinden sich nun voneinander isolierte Individuen, die die unmittelbare und sensible Grundlage ihrer Gemeinschaft verloren haben und nur noch Nachrichten an einen Namen ohne Gesicht austauschen können. Einem Namen, der kein Gesicht mehr hat.
https://www.quodlibet.it/giorgio-agamben-un-paese-senza-volto
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